RICHTLINIE 98/59/EG DES RATES vom 20. Juli 1998 zur Angleichung
der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen
Amtsblatt Nr. L 225 vom 12/08/1998 S. 0016 - 0021
Grundlagen
TEIL I Begriffsbestimmungen und Anwendungsbereich
TEIL II Information und Konsultation
TEIL III Massenentlassungsverfahren
TEIL IV Schlußbestimmungen
DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION -
gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaft, insbesondere auf Artikel 100,
auf Vorschlag der Kommission,
nach Stellungnahme des Europäischen Parlaments (1),
nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses (2),
in Erwägung nachstehender Gründe:
(1) Aus Gründen der Übersichtlichkeit und der Klarheit
empfiehlt es sich, die Richtlinie 75/129/EWG des Rates vom 17. Februar
1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
Massenentlassungen (3) zu kodifizieren.
(2) Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer ausgewogenen
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft ist
es wichtig, den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu
verstärken.
(3) Trotz einer konvergierenden Entwicklung bestehen weiterhin Unterschiede
zwischen den in den Mitgliedstaaten geltenden Bestimmungen hinsichtlich
der Voraussetzungen und des Verfahrens für Massenentlassungen
sowie hinsichtlich der Maßnahmen, die die Folgen dieser Entlassungen
für die Arbeitnehmer mildern könnten.
(4) Diese Unterschiede können sich auf das Funktionieren des
Binnenmarktes unmittelbar auswirken.
(5) Die Entschließung des Rates vom 21. Januar 1974 über
ein sozialpolitisches Aktionsprogramm (4) hat eine Richtlinie über
die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
Massenentlassungen vorgesehen.
(6) Die auf der Tagung des Europäischen Rates in Straßburg
am 9. Dezember 1989 von den Staats- und Regierungschefs von elf Mitgliedstaaten
angenommene Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer
sieht unter Nummer 7 Unterabsatz 1 erster Satz und Unterabsatz 2,
unter Nummer 17 Unterabsatz 1 und unter Nummer 18 dritter Gedankenstrich
folgendes vor:
"7. Die Verwirklichung des Binnenmarktes muß zu einer Verbesserung
der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in der Europäischen
Gemeinschaft führen [ . . . ].
Diese Verbesserung muß, soweit nötig, dazu führen,
daß bestimmte Bereiche des Arbeitsrechts, wie die Verfahren
bei Massenentlassungen oder bei Konkursen, ausgestaltet werden.
[ . . . ]
17. Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer
müssen in geeigneter Weise, unter Berücksichtigung der
in den verschiedenen Mitgliedstaaten herrschenden Gepflogenheiten,
weiterentwickelt werden.
[ . . . ]
18. Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung sind rechtzeitig
vor allem in folgenden Fällen vorzusehen:
[ - . . . ]
[ - . . . ]
- bei Massenentlassungen;
[ - . . . ];".
(7) Daher muß auf diese Angleichung auf dem Wege des Fortschritts
im Sinne des Artikels 117 EG-Vertrag hingewirkt werden.
(8) Es empfiehlt sich, im Hinblick auf die Berechnung der Zahl der
Entlassungen gemäß der Definition der Massenentlassungen
im Sinne dieser Richtlinie den Entlassungen andere Arten einer Beendigung
des Arbeitsverhältnisses, die auf Veranlassung des Arbeitgebers
erfolgt, gleichzustellen, sofern die Zahl der Entlassungen mindestens
fünf beträgt.
(9) Es sollte vorgesehen werden, daß diese Richtlinie grundsätzlich
auch für Massenentlassungen gilt, die aufgrund einer auf einer
gerichtlichen Entscheidung beruhenden Einstellung der Tätigkeit
eines Betriebs erfolgen.
(10) Die Mitgliedstaaten sollten vorsehen können, daß
die Arbeitnehmervertreter angesichts der fachlichen Komplexität
der Themen, die gegebenenfalls Gegenstand der Information und Konsultation
sind, Sachverständige hinzuziehen können.
(11) Es sollte sichergestellt werden, daß die Informations-,
Konsultations- und Meldepflichten des Arbeitgebers unabhängig
davon gelten, ob die Entscheidung über die Massenentlassungen
von dem Arbeitgeber oder von einem den Arbeitgeber beherrschenden
Unternehmen getroffen wird.
(12) Die Mitgliedstaaten sollten dafür Sorge tragen, daß
den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern administrative
und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen
gemäß dieser Richtlinie zur Verfügung stehen.
(13) Diese Richtlinie soll die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten
in bezug auf die in Anhang I Teil B angeführten Richtlinien und
deren Umsetzungsfristen unberührt lassen -
HAT FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:
TEIL I
Begriffsbestimmungen und Anwendungsbereich
Artikel 1
(1) Für die Durchführung dieser Richtlinie gelten folgende
Begriffsbestimmungen:
a) "Massenentlassungen" sind Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus
einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer
liegen, vornimmt und bei denen - nach Wahl der Mitgliedstaaten - die
Zahl der Entlassungen
i) entweder innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen
- mindestens 10 in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger
als 100 Arbeitnehmern,
- mindestens 10 v. H. der Arbeitnehmer in Betrieben mit in der Regel
mindestens 100 und weniger als 300 Arbeitnehmern,
- mindestens 30 in Betrieben mit in der Regel mindestens 300 Arbeitnehmern,
ii) oder innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen mindestens 20,
und zwar unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer in der Regel
in dem betreffenden Betrieb beschäftigt sind,
beträgt;
b) "Arbeitnehmervertreter" sind die Arbeitnehmervertreter nach den
Rechtsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten.
Für die Berechnung der Zahl der Entlassungen gemäß
Absatz 1 Buchstabe a) werden diesen Entlassungen Beendigungen des Arbeitsvertrags
gleichgestellt, die auf Veranlassung des Arbeitgebers und aus einem
oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer
liegen, erfolgen, sofern die Zahl der Entlassungen mindestens fünf
beträgt.
(2) Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf
a) Massenentlassungen im Rahmen von Arbeitsverträgen, die für
eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden, es sei
denn, daß diese Entlassungen vor Ablauf oder Erfüllung
dieser Verträge erfolgen;
b) Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen oder von Einrichtungen
des öffentlichen Rechts (oder in Mitgliedstaaten, die diesen
Begriff nicht kennen, von gleichwertigen Stellen);
c) Besatzungen von Seeschiffen.
TEIL II
Information und Konsultation
Artikel 2
(1) Beabsichtigt ein Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, so
hat er die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, um zu
einer Einigung zu gelangen.
(2) Diese Konsultationen erstrecken sich zumindest auf die Möglichkeit,
Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf
die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen,
die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung
der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern.
Die Mitgliedstaaten können vorsehen, daß die Arbeitnehmervertreter
gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken
Sachverständige hinzuziehen können.
(3) Damit die Arbeitnehmervertreter konstruktive Vorschläge unterbreiten
können, hat der Arbeitgeber ihnen rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen
a) die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und
b) in jedem Fall schriftlich folgendes mitzuteilen:
i) die Gründe der geplanten Entlassung;
ii) die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer;
iii) die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten
Arbeitnehmer;
iv) den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen;
v) die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden
Arbeitnehmer, soweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder
Praktiken dem Arbeitgeber die Zuständigkeit dafür zuerkennen;
vi) die vorgesehene Methode für die Berechnung etwaiger Abfindungen,
soweit sie sich nicht aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften
und/oder Praktiken ergeben.
Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde eine Abschrift
zumindest der in Unterabsatz 1 Buchstabe b) Ziffern i) bis v) genannten
Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln.
(4) Die Verpflichtungen gemäß den Absätzen 1, 2 und
3 gelten unabhängig davon, ob die Entscheidung über die Massenentlassungen
von dem Arbeitgeber oder von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen
getroffen wurde.
Hinsichtlich angeblicher Verstösse gegen die in dieser Richtlinie
enthaltenen Informations-, Konsultations- und Meldepflichten findet
der Einwand des Arbeitgebers, das für die Massenentlassungen verantwortliche
Unternehmen habe ihm die notwendigen Informationen nicht übermittelt,
keine Berücksichtigung.
TEIL III
Massenentlassungsverfahren
Artikel 3
(1) Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde alle beabsichtigten
Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen.
Die Mitgliedstaaten können jedoch vorsehen, daß im Fall
einer geplanten Massenentlassung, die aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung
über die Einstellung der Tätigkeit des Betriebs erfolgt, der
Arbeitgeber diese der zuständigen Behörde nur auf deren Verlangen
schriftlich anzuzeigen hat.
Die Anzeige muß alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte
Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gemäß
Artikel 2 enthalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, die
Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten
Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden
sollen.
(2) Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmervertretern eine Abschrift der
in Absatz 1 genannten Anzeige zu übermitteln.
Die Arbeitnehmervertreter können etwaige Bemerkungen an die zuständige
Behörde richten.
Artikel 4
(1) Die der zuständigen Behörde angezeigten beabsichtigten
Massenentlassungen werden frühestens 30 Tage nach Eingang der in
Artikel 3 Absatz 1 genannten Anzeige wirksam; die im Fall der Einzelkündigung
für die Kündigungsfrist geltenden Bestimmungen bleiben unberührt.
Die Mitgliedstaaten können der zuständigen Behörde jedoch
die Möglichkeit einräumen, die Frist des Unterabsatzes 1 zu
verkürzen.
(2) Die Frist des Absatzes 1 muß von der zuständigen Behörde
dazu benutzt werden, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten
Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen.
(3) Soweit die ursprüngliche Frist des Absatzes 1 weniger als
60 Tage beträgt, können die Mitgliedstaaten der zuständigen
Behörde die Möglichkeit einräumen, die ursprüngliche
Frist auf 60 Tage, vom Zugang der Anzeige an gerechnet, zu verlängern,
wenn die Gefahr besteht, daß die durch die beabsichtigten Massenentlassungen
aufgeworfenen Probleme innerhalb der ursprünglichen Frist nicht
gelöst werden können.
Die Mitgliedstaaten können der zuständigen Behörde weitergehende
Verlängerungsmöglichkeiten einräumen.
Die Verlängerung ist dem Arbeitgeber vor Ablauf der ursprünglichen
Frist des Absatzes 1 mitzuteilen und zu begründen.
(4) Die Mitgliedstaaten können davon absehen, diesen Artikel im
Fall von Massenentlassungen infolge einer Einstellung der Tätigkeit
des Betriebs anzuwenden, wenn diese Einstellung aufgrund einer gerichtlichen
Entscheidung erfolgt.
TEIL IV
Schlußbestimmungen
Artikel 5
Diese Richtlinie lässt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten
unberührt, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder
Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder für die
Arbeitnehmer günstigere tarifvertragliche Vereinbarungen zuzulassen
oder zu fördern.
Artikel 6
Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, daß den Arbeitnehmervertretern
und/oder den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren
zur Durchsetzung der Verpflichtungen gemäß dieser Richtlinie
zur Verfügung stehen.
Artikel 7
Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission den Wortlaut der wichtigsten
Rechts- und Verwaltungsvorschriften mit, die sie im Anwendungsbereich
dieser Richtlinie erlassen oder bereits erlassen haben.
Artikel 8
(1) Die in Anhang I Teil A aufgeführten Richtlinien werden aufgehoben;
dies berührt nicht die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich
der in Anhang I Teil B aufgeführten Umsetzungsfristen.
(2) Bezugnahmen auf die aufgehobenen Richtlinien gelten als Bezugnahmen
auf die vorliegende Richtlinie und sind nach Maßgabe der Entsprechungstabelle
in Anhang II zu lesen.
Artikel 9
Diese Richtlinie tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung
im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften in Kraft.
Artikel 10
Diese Richtlinie ist an die Mitgliedstaaten gerichtet.
Geschehen zu Brüssel am 20. Juli 1998.
Im Namen des Rates
Der Präsident
W. MOLTERER
(1) ABl. C 210 vom 6. 7. 1998.
(2) ABl. C 158 vom 26. 5. 1997, S. 11.
(3) ABl. L 48 vom 22. 2. 1975, S. 29. Richtlinie zuletzt geändert
durch die Richtlinie 92/56/EWG (ABl. L 245 vom 26. 8. 1992, S. 3).
(4) ABl. C 13 vom 12. 2. 1974, S. 1.
ANHANG I
TEIL A
Aufgehobene Richtlinien (gemäß Artikel 8)
Richtlinie 75/129/EWG des Rates und ihre Änderung:
Richtlinie 92/56/EWG des Rates.
TEIL B
Fristen für die Umsetzung in innerstaatliches Recht (gemäß
Artikel 8)
>PLATZ FÜR EINE TABELLE>
ANHANG II
>PLATZ FÜR EINE TABELLE>