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Der Barmherzige Konzern

von Stefan Willeke (aus "DIE ZEIT" Nr. 1 vom 27.12.1996)

 

Was wird aus der Caritas, wenn der Sozialstaat schrumpft? Der katholische Wohlfahrtsverband muß sich dem Markt beugen, um den Opfern des Marktes beizustehen. Doch Deutschlands größter privater Arbeitgeber trägt schwer am Kreuz.

In München bombardierten Pfarrer, Lehrer, und Eltern die Caritas mit Hunderten von Protest- briefen, als bekannt wurde, daß der katholische Wohlfahrtsverband die Erziehungsberatung in den Stadtteilen Bogenhausen und Forstenried "abwickeln" will. In Berlin soll der Adoptionsdienst dichtmachen. Dutzende kinderlose Paare fühlen sich alleingelassen. In Köln, der Festung des rheinischen Katholizismus, droht eine Kapitulation: Wenn die Krankenkassen nur noch so viel zahlen, wie in der Gesundheitsreform vorgesehen, muß die Caritas im schlimmsten Fall alle 60 Pflegestationen schließen, die jetzt 15 000 Alte und Kranke versorgen.

Den Barmherzigen geht das Geld aus. Die Zuschüsse von Bund, Ländern und Kommunen schwinden, die Kirchensteuern bröckeln, und die Bischöfe knausern. Großzügige Spender laufen oder sterben weg. Wohlfahrtsmarken erfreuen nur noch ein paar Sammler. Kindergärten und Behindertenwerkstätten, Altenheime und Beratungsstellen reißen schon lange Löcher in den jetzt schrumpfenden Etat. Neue gewerbliche Pflegedienste machen den Sozialstationen Konkurrenz. Auf den Krankenhäusern lastet der Deckel der Pflegesätze. Über Jahrzehnte hat die Caritas dem Staat die Fürsorge in vielen sozialen Bereichen abgenommen. Jetzt soll der Sozialstaat schlanker werden, und Nächstenliebe muß sich rechnen.

Die Zeiten, als noch ein paar gutmütige Ordensschwestern im Namen der Barmherzigkeit Suppe austeilten, sind längst vorbei. Die Caritas ist zu einem Mammutunternehmen expandiert. Sie ist Deutschlands größter Wohlfahrtsverband und größter privater Arbeitgeber im Land. Rund 430 000 hauptamtliche Mitarbeiter stehen heute auf der Caritas-Gehaltsliste. Mehr Leute als bei Daimler, mehr Leute als bei Siemens und mehr Leute als bei Daimler und Siemens in Deutschland zusammen. Sie beraten Drogenabhängige, Schuldner und Obdachlose, betreuen Alte, Kranke und Behinderte, sie helfen in den Krisengebieten in der Dritten Welt, sie beschäftigen Arbeitslose und Jugendliche an sozialen Brennpunkten.

Aus einem katholischen Provinzverein, der Kriegsopfer und italienische Saisonarbeiter umsorgte, ist ein säkularer Dienstleistungsriese geworden, der seine Lobbyisten nach Bonn und Brüssel schickt. Und immer wieder muß die Großorganisation vor ihrem höchsten Gericht Rechenschalt ablegen - einem weltabgewandten Aufsichtsrat, in dem Bischöfe das Sagen haben.

Der Wohlfahrtsverband ringt um seine Identität. Was ist die Caritas? Eine Gemeinde der Mild- tätigen, ein Profitcenter, eine Staatsbürokratie, eine Filiale der katholischen Kirche? Von Zwängen zerrissen, experimentiert der Verband mit seiner Zukunft: Sozialer Abbau oder sozialer Umbau, Wohlfahrtskonzern oder Zuschußbetrieb, Kirchturms- oder Sozialpolitik?

Die Caritas, die die Opfer der Marktwirtschaft umsorgt, muß sich selbst den Marktgesetzen unterwerfen.

Die apathische Gelassenheit des Pförtners spiegelt den Geist des Hauses. In den Gängen der Caritas-Zentrale in Freiburg ist es still, die warme Heizungsluft läßt die Blätter der eingekübelten Yuccapalmen zittern. Im Treppenhaus fängt sich der Hall von Schuhabsätzen, eine Sekretärin schleppt Akten. Dann kehrt die Stille zurück. Es riecht nach Bohnerwachs, es riecht nach Behörde.

"Wir sind kein Konzern. Wir sind ein gemeinnütziger Verein, der selbstlos wirtschaftet", sagt der jugendlich auftretende Robert Batkiewicz, der die Geschäfte einer westfälischen Ordensgenossenschaft geführt hatte, bevor ihn die Caritas zum Finanzdirektor über Millionenbeträge machte. Sein Büro ist größer als das des Präsidenten. Dann ist der Finanzdirektor wohl der mächtigste Mann im Hause? "Aber nein", entrüstet er sich, und für einen Augenblick verläßt ihn der Lächelinstinkt: Geld habe bei der Caritas ja lediglich eine "dienende Funktion". Nichts scheint den Finanzdirektor mehr zu schockieren als die fixe Idee, Finanzen könnten wichtig sein.

Dann beginnt er in langen, eindringlichen Sätzen zu erklären, warum er weniger wisse, als man es von einem Chefökonomen erwarten sollte: Die Caritas, der Subsidiarität verpflichtet, zerfällt in 22 eigenständige Diözesanverbände, über 460 untergeordnete Bezirks-, Kreis- und Ortsverbände sowie ungezählte Mitgliedsvereine anderer katholischer Organisationen.

Alle werden von der Zentrale vertreten, doch keiner im Reich der Caritas läßt sich von ihr hineinregieren.

Ist denn die Caritas insgesamt ein gesundes Unternehmen? "Ich kann es beim besten Willen nicht sagen", entschuldigt sich der Finanzdirektor, "zu viele Geldtöpfe für so viele rechtlich selbständige Einrichtungen auf den unterschiedlichsten Ebenen." Die vielen Caritasverbände behalten ihre Zahlen oft für sich, jeder rechnet anders ab, und keiner hat einen Überblick.

"Aber", und nun zitiert er aus einer hoffnungsvollen Befragung, "nur zehn Prozent der Bevölkerung bringen die Caritas mit Geldverschwendung in Verbindung." Das ist beruhigend.

"Die Caritas erschrickt beim Blick in den Spiegel", glaubt der Dortmunder Wohlfahrtsforscher und Pädagogikprofessor Thomas Rauschenbach, "sie denkt nicht systematisch in die Zukunft, sie vermeidet Transparenz und entzieht sich der demokratischen Debatte." Bis heute ist dem Forscher verborgen geblieben, "wer wo Träger einer Caritas-Einrichtung ist oder sein darf". Alle Ebenen wirbeln durcheinander, niemand blickt durch, aber alle wursteln mit.

So fällt es kaum auf, daß ein Sozialarbeiter bei der Kirchenstiftung angestellt ist, sein Geld von der Diözese bekommt und in einem Caritas-Zentrum Dienst schiebt.

Ein Soziologe, der sich kürzlich auf den Weg zum Freiburger Chefstatistiker machte, traf auf "einen Mann mit einer Schieblehre" und wartete anschließend neun Monate auf halbwegs brauchbare Daten. Das ist weit mehr als nur ein kleines Forschungsdilemma: Ohne aktuelle Daten ist auch keine Sozialberichterstattung möglich - eine Voraussetzung, um die Bonner Sozialpolitik mit der Lebenswirklichkeit zu konfrontieren.

Jeder Kreis-, Orts- und Diözesanverband kämpft allein gegen den Kostendruck und für soziale Arbeit. Der eine resigniert ratlos, der andere wandelt sich, der dritte schreit um Hilfe.

Christoph Fedke schreit nicht. Der Caritas-Geschäftsführer der Stadt München wendet dem Weihnachtsrummel vor seinem Bürofenster am Rindermarkt den Rücken zu. Falten haben sich in seine Stirn gegraben. Christoph Fedke rechnet sich gerade arm. Jeden zweiten Satz beginnt er mit den Worten: "Wir haben ein Problem." Die Rücklagen des Diözesanverbandes sind seit 1994 von 61 auf 42 Millionen Mark geschrumpft - nur um die größten Löcher zu stopfen. "Wenn das so weitergeht, sind wir bald pleite."

Nur die Altenheime werfen kleine Gewinne ab, und die Pflegedienste sind tief in die roten Zahlen gerutscht. In ihrer Hilflosigkeit streicht die Caritas ihre sozialen Dienste zusammen.

"Das ist unsere Planwirtschaft", sagt Wolfgang Klug, Leiter des Caritas-Sozialzentrums im Münchner Armutsviertel Ramersdorf, greift einen Stapel Papier von seinem Schreibtisch und rollt den drei Meter langen Computerstreifen aus. Die Liste aller Kostenvorgaben, die jeden Monat neu ins Haus kommt, ist atemberaubend: ein paar Mark für Porto, ein bißchen mehr für Putzmittel, ein bißchen weniger für Fachbücher. Die Energie, die im Kampf mit der Papierschlange vergeudet wird, könnte in greifbarer Nähe sinnvoll investiert werden: Gleich hinter der Kirche liegt das Containerdorf für Asylbewerber. "Unsere Caritas hat eine haarsträubende Konstruktion, in der sich keine neue Ressourcen anzapfen lassen", schimpft Klug auf die umständliche Bürokratie.

Der Diözesanverband, obwohl bereits vorsichtig dezentralisiert, thront noch immer über allen 5000 Mitarbeitern in 300 Einrichtungen. Wenn die Traunsteiner Caritas einen Kellerraum anmieten will, braucht sie das Plazet der Münchner Verwaltung. Wenn die Miesbacher Caritas eine Kontovollmacht ändern will, benötigt sie Kopien der Personalausweise der verantwortlichen Zentralvorstände und einen Auszug des Vereinsregisters. "Warum sind wir so sicher, daß wir alles richtig machen, warum hat sich kein Wohlfahrtsverband die Mühe gemacht, seine Klienten zu fragen, ob sie mit den Leistungen zufrieden sind?" fragt Klug.

Die Caritas ist weder zentralisiert, noch ist sie wirklich dezentralisiert, sie fügt sich den Bistümern der katholischen Kirche. "Die sollen nicht sagen, wir hätten sie nicht gewarnt", sagt einer, der den Wohlfahrtsverbänden seit zehn Jahren vorwirft, "ihre Defizite in Richtung Staat zu buchstabieren": Hubert Oppl, der die Wirtschaftsbetriebe eines Franziskanerklosters im schwäbischen Reute leitet und den Schwestern einbleut, daß sie sich um "Kunden" kümmern.

Ein ganzer Wohlfahrtsverband, behauptet unverdrossen der Marktwirtschaftler Oppl, lasse sich aus Überschüssen in einzelnen, aber professionell geführten Profitbereichen finanzieren.

Doch die Voraussetzungen fehlten: fähige Manager und klar gegliederte Unternehmens- bereiche. Als Oppl seine Diagnose Ende der achtziger Jahre in einer Studie offenlegte, wurde der Direktor der Landes-Caritas wütend und drängte ihn, die Untersuchung zurückzuziehen. Erbarmungslos geißelt Oppl weiter das eigene Fleisch: "Wer reich ist, darf nicht betteln gehen. Die haben einen enormen Immobilienbesitz."

Friedhart Hegner, Leiter eines Instituts für Sozialplanung in Berlin, durchforstet im Auftrag einiger Wohlfahrtsverbände, auch der Caritas, die Akten, um Menge und Wert der Immobilien herauszubekommen. "Ein heißes Thema", sagt er, "da der Staat von der Basisfinanzierung der Verbände abrückt, dürfen die sich nicht reich geben, sondern müssen Verstecken spielen." Ist es wahr, daß die Wohlfährtsverbände nach der Bahn AG die größten deutschen Immobilienbesitzer sind? "Man kann auf diesen Gedanken kommen." Allein die Münchner Caritas hat Häuser, Wohnungen und Grundstücke im Wert von 328 Millionen Mark - das Erbe längst vergangener krisensicherer Gläubigkeit, als gutbetuchte Katholiken der Caritas noch ihr Hab und Gut vermachten.

Die ersehnten Manager sitzen schon in den Kirchenbänken. Der Bankkaufmann Rudolf Winderlich übernahm vor vier Jahren die Geschäfte im größten bayerischen Diözesanverband, der Augsburger Caritas, und sagt heute: "Von uns kann man lernen, wie man mit der Krise fertig wird." Wenn der Aufräumer ins Büro kommt, vertieft er sich zunächst in die Wirtschafts- presse, erst später schaut er in die katholischen Blätter. "Ich habe mich nie alimentieren lassen und immer für mein Geld gearbeitet", sagt er gerne.

Als Winderlich kam, stand er vor einem Dilemma: Der Diözese starb der soziale Arm ab, weil sie sich mit der Renovierung von Kirchen verausgabt hatte.Der Caritas-Dachverband war überfrachtet mit Trägerschaften für Krankenhäuser, Altenheime und Sozialstationen, die ihren organisatorischen Wirrwarr sorglos nach Augsburg weitergaben.

Schrittweise hat die Augsburger Caritas viele Einrichtungen in die Selbständigkeit gedrängt. "Jetzt sind alle Sozialstationen selber dafür verantwortlich, daß der Laden läuft." Für alle Vereine, die das Flammenkreuz tragen, gibt es miteinander vergleichbare Wirtschaftsdaten. Nichts wird verheimlicht.

Bis vor kurzem hat die Augsburger Geschäftsstelle für ihre 74 Sozialstationen die Verwaltung zum Nulltarif gemacht. "Das sind indirekte Subventionen", sagte Winderlich und krempelte das System um. Wer die Gehaltsbuchführung heute vom Dachverband machen oder sich vom Hausjuristen belehren läßt, muß dafür bezahlen. Wer nicht mehr bezahlen kann, weil der finanzielle Bankrott droht, dem hilft die bundesweit erste Caritas-Unternehmensberatung: die Caritas Augsburg Consulting GmbH, eine privatwirtschaftliche Tochter der Gemeinnützigen.

Die Consulting-Katholiken werben nicht, sonst würden sie mit Hilfsgesuchen überschüttet. Die Berater sanieren marode Dienststellen und verleihen an sie Sozialmanager auf Zeit - gegen Honorar. Sogar Kommunen sind schon auf die Idee gekommen, notleidende Altenheime an die Gesellschaft mit dem bischöflichen Segen abzutreten.

Für Doris Scheuerl kam die Rettung "in letzter Minute". Die 58jährige Bäuerin ist Vorstandsmitglied der Caritas-Sozialstation in Lindenberg, einer Kleinstadt im Allgäu. Nachdem der frühere Geschäftsführer die Caritas verlassen hatte, wurstelte sich der Vorstand allein durch: Der Bürgermeister mimte den Kassierer und erwirtschaftete monatliche Defizite von 10.000 Mark, bis die letzten Reserven aufgebraucht waren.

Entnervt zog Doris Scheuerl die Notbremse und holte den Consulter Robert Krenn, der in alle Bereiche hineinfingerte, bis die Bilanz stimmte.

"Wo bleibt unser sozialer Anspruch?" fragten einige Pfleger irritiert. Und Doris Scheuerl antwortete: "Wir können nur menschlicher werden, wenn der Laden läuft." Jetzt kann die Sozialstation wieder zusätzliche Leistungen anbieten, für die die drei gewerblichen Pflegedienste, die am Bodensee-Zipfel der Caritas Konkurrenz machen, nichts übrig haben. Profitables Wirtschaften ist für den Bankkaufmann Rudolf Winderlich kein Bruch mit der Soziallehre. "Gerügt wird im Evangelium jener, der seine Talente vergräbt."

Mit den Gewinnen der Consulting GmbH will die Caritas ihre Sozialberatungsstellen am Leben erhalten, die aus Eigenmitteln gespeist werden. So können psychisch Kranke, Drogenabhängige oder mißhandelte Frauen weiterhin unbürokratische Hilfe finden - dank der profitablen GmbH.

Die Umorganisation nimmt auch den Helfern Zukunftsängste. In der Verwaltung des Augsburger Verbandes sind zwar etwa zwanzig Stellen gestrichen, dafür ist mehr Personal für die "operativen Bereiche", etwa für die Leitung von Heimen, abgeordnet worden. Zweihundert neue Leute sollen in den nächsten Jahren eingestellt werden - um die Einrichtungen professioneller zu führen und Geld zu verdienen, das dann in die Sozialarbeit fließt.

"Je selbständiger die kleinen Einheiten arbeiten, um so besser", sagt Winderlich.

Und wenn einige Wohltäter so mündig werden, daß sie ihre Buchführung bald nicht mehr von den Caritas-Managern machen lassen? "Dieses Risiko gehen wir ein."

Und wenn ein kleiner Caritas-Verein einen Protestanten zum Direktor machen wollte? "Nein", erschrickt Winderlich, "das geht nicht." Dieses Risiko geht keiner ein.

Wenn der Bischof nicht mitspielt, ist jede Reform zum Scheitern verurteilt. "Die Caritas ist eine Lebens- und Wesensäußerung der katholischen Kirche" So lautet der erste Satz in den Richtlinien für Arbeitsverträge der Caritas. Die Caritas ist ein "Tendenzbetrieb" mit besonderen Spielregeln. So nennen es die Juristen.

Der plaudrige Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Hellmut Puschmann, achtet sehr auf seine Worte, wenn er über die "Sorge einiger Bischöfe" spricht, der Dienstleister Caritas "vernachlässige seine konfessionelle Bindung". Die rasante Professionalisierung sei nicht frei von Gefahren: "Die sozialen und fachlichen Fähigkeiten unserer Mitarbeiter werden wichtiger. Aber wir müssen auch darauf achten, welche Werte die einzelne Krankenschwester prägen."

Richtlinien darüber, welches Personal welche Werte mitbringen muß, habe die Caritas allerdings nicht, behauptet Puschmann. Dabei hat der Präsident eine Kleinigkeit unterschlagen: die "Grundordnung des kirchlichen Dienstes", eine Art Grundgesetz, das auch für die Caritas gilt. Wer einen leitenden Posten will, muß katholisch sein. Wer sich scheiden läßt, nachdem die katholische Kirche den Bund der Ehe geschmiedet hatte, und dann erneut heiratet, dem wird gekündigt.

Puschmann aber erinnert sich "nur an einen Fall", in dem seine "Zentrale" ein Machtwort gesprochen habe.

Es galt, einen ärgerlichen Präzedenzfall aus der Welt zu: schaffen: Ein Caritasverband hatte versucht, der Obhut der Kirchenfürsten zu entkommen. Daß Hellmut Puschmann zum Präsidenten gewählt wurde, verdankt er auch den Bischöfen. Die hätten seinen Namen einfach von der Kandidatenliste streichen können. Dabei ist der Mythos von der tiefen Verwurzelung im konfessionellen Bekenntnis von der Wirklichkeit längst entzaubert worden. "Die Caritas steht mit beiden Beinen auf dem Wachstumsmarkt der sozialen Dienste. Sie dient der Allgemeinheit und kann keine Gesinnungsangebote machen", sagt Wohlfahrtsforscher Rauschenbach. Viele Sozialarbeiter, Pfleger und Betreuer des katholischen Hilfswerks sind evangelisch. Trotzdem würden weiterhin "lieber Theologen eingestellt als Diplompädagogen". Gerade beim "erzieherischen Dienst" sind die Bischöfe besonders wählerisch. Der Vorrang der Fachlichkeit scheitert am Veto der Kirche, die um ihren Einfluß bangt.

Als der Freiburger Priester Lorenz Werthmann 1897 den Caritasverband für das katholische Deutschland gründete, handelte er ohne kirchlichen Segen. Die Bischöfe mißtrauten der eigenständigen Laienorganisation des "cholerischen Rheingauers", die zwar an der Seite von Geistlichen soziale Not lindern, aber sich den Bischöfen nicht unterordnen wollte. Erst im Krieg, zwanzig Jahre später, mußte die Caritas kapitulieren. Ohne das Geld, das Personal und die Einrichtungen der Kirche war den Notleidenden des Kriegs nicht mehr zu helfen. Und die katholische Kirche wollte sich im prote- stantischen Staat profilieren, sich einen starken sozialen Arm zulegen, um ihr Refugium zu retten. "Die völlige Einheitsfront der deutschen Katholiken auf karitativem Gebiete", sagte ein Bischof, "ist endgültig hergestellt."

Das Gerangel zwischen eigenständiger Caritas-Arbeit und kirchlicher Oberhoheit wurde hinter den Kulissen fortgesetzt. Um Kompetenzen zankten Caritas und Kirche beispielsweise 1949, als Caritas-Präsident Benedict Kreutz starb und ein Machtvakuum hinterließ. Diesen Streit hätte Hans-Josef Wollasch, der Historiker des Deutschen Caritasverbandes, gerne nachgezeichnet. Doch in seinem gutsortierten Archiv hat er nie Unterlagen gefunden. "Alle, die darüber informiert waren, haben ihr Wissen mit ins Grab genommen", sagt der 61jährige. Der feinsinnige Archivar schaffte die alten Möbel des Caritas-Gründers in sein Büro, in den hintersten Winkel des labyrinthischen Untergeschosses: "Bevor jemand auf die Idee kommt, alles zu verkaufen."

Kummer bereiten den Caritas-Hirten heute ausgerechnet die eigenen Ordensgemeinschaften, die 1950 mehr als die Hälfte der Caritas-Helfer stellten: Inzwischen sind es gerade mal vier Prozent. Die Klöster sind überaltert, der Nachwuchs macht sich rar, und die Schwestern sind zu gebrechlich, um die Wunden der Welt zu heilen.

Jahrzehntelang haben die Schwestern von der Heiligen Familie am Kochelsee für die Caritas klaglos die Stellung gehalten. Jetzt sind sie alt. Einige Schwestern verlassen das Altenheim am Alpenrand überhaupt nicht mehr: Erst haben sie andere umsorgt, jetzt werden sie dort selber gepflegt. Der Hilferuf der geschäftsführenden Ordensschwestern wurde erhört: Im Oktober hat ein 31jähriger Sozialpädagoge die Heimleitung übernommen und stellt jetzt weltliches Personal ein.

Auch dem Heer von Ehrenamtlichen gehen die Rekruten aus. Wie viele Freiwillige der Caritas für Gotteslohn helfen, weiß niemand so genau. Wahrscheinlich mehr als eine Million. Doch die Caritas ist unattraktiver geworden: Katholische Milieus, in denen ein Caritas-Ehrenamt Prestige versprach, sind fast verschwunden.

Und eine Großorganisation, in der Profis die wesentliche Arbeit machen, hat Amateuren nicht viel zu bieten.

Da die Tradition zerbricht, soll jetzt erstmals ein "Leitbild" den Wohltätern den Rücken starken. "Not sehen und handeln", so sehen die Vordenker ihre Caritas ein Jahr vor dem 100. Geburtstag. "Wir sind Anwalt der Armen", tönt es überall. Und als der mische sich die Caritas in die Politik ein. Der bislang größte Affront gegen die Wohlstandsprediger der Regierung Kohl liegt drei Jahre zurück: Die Caritas präsentierte öffentlich ihren Armutsbericht und verärgerte die Christdemokraten in Bonn, die das Problem hartnäckig leugnen. Noch ist nicht das letzte Wort gesprochen, ob das Leitbild in die Caritas-Verfassung aufgenommen wird, doch schon jetzt haben Caritas-Spitzenfunktionäre Schelte bezogen. Vor allem von einigen Bischöfen, die eine "Säkularisierung der Caritas" fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Erzbischof Paul Josef Cordes wittert den Aufstand: Die Samariter womöglich als "Gegengewalt zu den Mächtigen und Reichen" - der päpstliche Berater schreckt empört zurück.

Mit dem Leitbild, inzwischen theologisch nachgebessert, kann auch Hejo Manderscheid nicht viel anfangen. Aus ganz anderen Gründen: "Wir sind nicht Anwalt der Armen. Keiner von denen hat uns ein Mandat erteilt. Wir sind Vermittler im Stadtteil", sagt der Direktor der Caritas in Frankfurt am Main. Der 42jährige ist alles andere als ein typischer Caritas-Chef: Unreflektierte Barmherzigkeitsfloskeln kommen ihm nicht über die Lippen. Der fürsorgliche Würgegriff riecht für Manderscheid nach "Ideologie" - und auch nach "Entmündigung von Menschen".

Die Bahnhofsmission sei das beste Beispiel: Jeder Herumirrende, der an die Tür klopft, werde sofort mit einer Tasse Kaffee versorgt, und die Sozialarbeit erschöpfe sich in der "Mit-oder-ohne-Frage: Mit oder ohne Milch?".

Wenn Hejo Manderscheid liebgewonnene Caritas-Traditionen mit bissiger Ironie bloßstellt, bleibt er ungerührt. Er ist Marathonläufer, athletische Kanten formen sein schmales Gesicht.

Der allgemeine Sparzwang und der Verteilungskampf um öffentliche Gelder machten viele Caritas-Direktoren unkreativ: "Sie bauen schrittweise ab, was sie haben, denken aber nicht darüber nach, was sie grundsätzlich ändern könnten." Für Manderscheid spiegelt sich darin ein Dilemma der gesamten Sozialstaatsdebatte: "Von allem ein bißchen weniger, aber nichts umkrempeln."

Manderscheid hat umgekrempelt. Doch von Profitcenter und GmbH-Ausgliederungen will er nichts wissen: "Dann machen wir vielleicht alles profitabler, aber mit Sicherheit nichts anders."

Ein Neubeginn müsse vor allem eine "fachliche Seite" haben. Wie zum Beispiel in dem Wohnwagen neben einer Kirche in einem Frankfurter Vorort. Darinnen ist aus dem fünfzigjährigen Obdachlosen Hans Langer (Name geändert) ein Seßhafter geworden, der eine feste Bleibe sucht. Er trägt einen blauen Trainingsanzug und hustet asthmatisch: Für Leute wie ihn, die "jahrelang Platte gemacht haben" und wegwollen von der Straße, hat die Caritas Wohnwagen bereitgestellt. Langers Domizil ist spärlich eingerichtet, wohlfühlen soll er sich auf Dauer nicht. Langer soll selbst aktiv werden und bald ausziehen, seine Betreuer versorgen ihn mit Wohnungsangeboten. Die Frau von der Imbißbude, wo er sich manchmal ein Mittagessen gönnt, hat ihm eine Wohnung angeboten. Leider zu teuer. Vielleicht klappt es am Sonntag auf dem Sportplatz, wenn er mit den Einheimischen, die Mietwohnungen besitzen, den Ball ins Tor brüllt.

"Ist dieser Mann für uns ein Kunde?" fragt Caritas-Chef Manderscheid und will ein "Nein" hören. Mehr Marktwirtschaft in der Wohlfahrt ist kein Rezept, um die sozialen Probleme zu lösen. Drogenabhängige und Obdachlose haben kein "Nachfragepotential". Die Frankfurter Caritas kümmert sich um sie, ohne ihnen ein Drehbuch für ein besseres Leben in die Hand zu drücken. Ein bißchen, aber gezielte Hilfe, die außerdem Hunderttausende Mark spart: Ein Wohnwagen ist billiger als ein Zimmer in der Notunterkunft. Die Caritas am Main füttert Hungernde nicht bei der Armenspeisung ab, sondern schickt sie zum Mittagstisch in eine Kneipe, wo sie auch mit anderen Leuten aus ihrem Viertel plaudern können.

Aus einem Regal zieht Hejo Manderscheid ein abgegriffenes Buch, schlägt Seite 14 auf und zitiert:

"Caritas ist nicht Betätigung eines dunklen Gefühls, nicht allein Übung eines warm fühlenden Herzens, Caritas ist Wissenschaft, Caritas ist Kunst."

Kein abgeklärter Soziologe hat diesen Satz formuliert, sondern Lorenz Werthmann, der Gründer des Caritasverbandes.