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Dr. Jürgen Kühling, Richter am Bundesverfassungsgericht a.D

Arbeitskampf in der Diakonie

A. Einführung

Die Kirchen und ihre Einrichtungen sind seit Menschengedenken von Arbeitskämpfen verschont geblieben. Soweit ich sehe, hat es nur in den Jahren 1919-1921 (erfolgreiche) Streiks der Kirchhofsarbeiter in Berlin und der Bürohilfsarbeiter der Berliner Stadtsynode gegeben; auch in anderen Städten kam es damals zu Arbeitskämpfen der Friedhofsarbeiter. Tarifverträge bestehen nur bei der Nordelbischen Evangelischen Kirche und der Kirche von Berlin-Brandenburg. Im übrigen lehnen die Kirchen und ihre Einrichtungen Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften ab und betrachten Streiks als nicht kirchengemäß und daher unzulässig. Sie berufen sich dabei auf das ihnen durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) garantierte Selbstverwaltungsrecht. Die kirchlichen Mitarbeiter und ihre Gewerkschaften haben dies hingenommen, solange ihre Arbeitgeber die Tarife für den öffentlichen Dienst im wesentlichen unverändert einzelvertraglich gelten ließen.

Diese stillschweigende Übereinkunft ist entfallen. Beide Kirchen haben auf einem sogenannten Dritten Weg ein kircheneigentümliches Arbeitsrecht entwickelt. Arbeitsrechtliche Kommissionen, in denen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite paritätisch vertreten sind, erlassen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) und Vergütungsordnungen für die Mitarbeiter in den kirchlichen Einrichtungen. Tarifverträge sollen dadurch überflüssig werden. In den letzten Jahren sind dabei vor allem in den AVR der Diakonie schlechtere Arbeitsbedingungen festgelegt und Entgeltabsenkungen vorgenommen worden.

Beim Evangelischen Johanniswerk e.V. (Diakonisches Werk) spitzt sich der Konflikt zu. Es unterhält als Altenpflegeeinrichtung das Simeonsstift in Vlotho. Für die dort Beschäftigten werden die AVR des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) angewendet, die die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes unterschreiten. Die Gewerkschaft ÖTV hat deshalb das Johanniswerk zu Tarifverhandlungen mit dem Ziel einer Übernahme des BAT aufgefordert. Wegen der außerordentlichen Bedeutung des Diakonischen Werks für den entsprechenden Arbeitsmarktsektor wirken sich die - aus Arbeitnehmersicht - ungünstigeren Arbeitsbedingungen inzwischen negativ auf die gewerkschaftliche Verhandlungsposition im jeweiligen Tarifbereich des öffentlichen Dienstes und bei den nichtkirchlichen Wohlfahrtsverbänden aus, denn die Sozialeinrichtungen stehen heute in erheblicher Konkurrenz zueinander. Das Johanneswerk hat Tarifverhandlungen unter Berufung auf Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV abgelehnt und angedroht, die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die sich an Arbeitskampfmaßnahmen (Warnstreiks) beteiligen, zu kündigen.

Die lange offengehaltene Frage, ob Religionsgesellschaften und ihre Einrichtungen verfassungsrechtlich gegen Arbeitskampfmaßnahmen geschützt sind, steht zur Entscheidung an.

 

B. Stellungnahme

I. Meinungsstand

Von der wohl herrschenden Auffassung wird die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen gegen kirchliche Einrichtungen verneint. Sie stützt sich auf die staatskirchenrechtliche Grundlage der Arbeitsverhältnisse. Aus Art. 140 GG in Verbindung mit den einbezogenen Artikeln der WRV ergebe sich ein Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, das nicht nur die Wortverkündung, sondern auch die karitativen Tätigkeiten umfasse. Mit dem religiösen Auftrag sei eine nach dem Wettbewerbsprinzip organisierte Dienstverfassung unvereinbar. Die Kirche sei nach ihrem Selbstverständnis daran gehindert, Kampfmaßnahmen zu ergreifen, um einem Streik zu begegnen; denn sie könne weder die Glaubensverkündung noch den Dienst an ihrem Nächsten suspendieren, um durch eine Aussperrung Druck auf ihre Mitarbeiter auszuüben. Ohne die Möglichkeit einer Gegenwehr bestünde die Gefahr, dass die Regelungen der Arbeitsbedingungen nicht mehr auf einem System freier Vereinbarungen beruhten, das Voraussetzung für ein Tarifvertragssystem sei. Das Streikrecht sei aber nur soweit gewährleistet, als es zur Herbeiführung von Tarifabschlüssen ausgeübt werde.
Die Gegenmeinung sieht Art. 9 Abs. 3 GG als vorrangig an. Wer sich dem Arbeitsrecht unterwerfe, könne sich der Koalitionsfreiheit nicht entziehen. Das kirchliche Selbstverwaltungsrecht könne sich gegen das Grundrecht der Koalitionsfreiheit nicht durchsetzen. Dieses Grundrecht sei vorbehaltlos gewährleistet und wirke kraft ausdrücklicher Regelung in Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG gegenüber jedermann. Insofern verletze der Standpunkt der Kirchen fundamentale Grundsätze der Verfassung. Jedenfalls führe eine Güterabwägung zwischen den entgegenstehenden verfassungsrechtlichen Positionen zu dem Ergebnis, dass Tarifauseinandersetzungen und damit auch Arbeitskämpfe zulässig blieben.

Arbeitsgerichtliche Entscheidungen zur Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen gegenüber kirchlichen Einrichtungen sind soweit ersichtlich noch nicht ergangen.

 

II. Maßstäbe

1. Koalitionsfreiheit

Ausgangspunkt der Prüfung ist die den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Koalitionsfreiheit. Sie umfasst das Streikrecht zur Erzwingung eines Tarifvertrages. Das gilt auch für die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst. Nicht nur die Koalition, sondern auch der einzelne Arbeitnehmer, der sich an einem Streik beteiligt, genießt bei dieser Betätigung den Schutz des Grundrechts. Diese Gewährleistung ist nicht auf einen Kernbereich beschränkt, sondern gilt vorbehaltlos und kann nur zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG untersagt u.a. Maßnahmen, die die Koalitionsfreiheit einschränken oder zu behindern suchen.

In seiner Bedeutung als Abwehrrecht kann Art. 9 Abs. 3 GG hier nicht zur Geltung gelangen, da es um ein Privatrechtsverhältnis geht. Anders als andere Freiheitsrechte entfaltet die Koalitionsfreiheit aber unmittelbare Drittwirkung gegenüber anderen Privatrechtssubjekten. Das Behinderungsverbot des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG richtet sich gegen jedermann, privatrechtliche Abreden mit koalitionsbehinderndem oder einschränkendem Inhalt sind ipso jure nichtig. Die Rechtsfolgen, die diese Grundrechtsnorm hinsichtlich von Abreden und Maßnahmen vorsieht, sind den Gerichten verbindlich - nicht anders als etwa durch § 134 BGB - vorgegeben. Wird die Koalitionsfreiheit durch die Anwendung arbeitsrechtlicher Vorschriften berührt, so müssen die Gerichte die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts beachten.

Funktional ist die Tarifautonomie darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Um dieses Zwecks willen und in dem dadurch vorgegebenen Umfang ist der Einsatz von Arbeitskampfmitteln als koalitionsmäßige Betätigung sowohl der Arbeitnehmer- als auch der Arbeitgeberseite geschützt. Soweit das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander berührt wird, bedarf die Koalitionsfreiheit der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung. Anstelle des Gesetzgebers können in diesem Umfang auch die Gerichte tätig werden. Die Garantie eines gesetzlich geregelten und geschützten Tarifvertragssystems, dessen Partner frei gebildete Koalitionen im Sinne von Art. 9 Abs. 3 GG sind, steht jedoch weder zur Disposition des Gesetzgebers noch der Gerichte. Sie gehört zum Wesensgehalt der Koalitionsfreiheit im Sinne von Art. 19 Abs. 2 GG.

2. Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften

Einer Ausübung des Streikrechts gegenüber kirchlichen Arbeitgebern kann das den Religionsgesellschaften durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV "in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes" gewährleistete Selbstbestimmungsrecht entgegenstehen. Wie weit dieses Recht reicht und wo seine Schranken liegen, wird in der Literatur kontrovers erörtert. Diese Diskussion soll hier nicht aufgenommen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in mehreren Entscheidungen mit wechselnden Positionen Stellung genommen. Die folgenden Ausführungen beruhen auf seinen beiden letzten einschlägigen Beschlüssen zu diesem Fragenkreis, die faktisch die geltende Rechtslage wiedergeben und überwiegend auf Zustimmung gestoßen sind.

Danach gilt: Die Gewährleistungen der Weimarer Kirchenartikel sind funktional auf die Inanspruchnahme des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften genießt verfassungsrechtlichen Rang und steht nicht nur den verfassten Kirchen selbst, sondern allen ihren Einrichtungen zu, soweit sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück des Auftrags der Kirche wahrzunehmen. Nach dem Selbstverständnis der Kirchen umfasst die Religionsausübung auch die Freiheit zur Entfaltung und Wirksamkeit in der Welt. Das karitative Wirken ist als tätige Nächstenliebe eine wesentliche Aufgabe der Christen und wird von ihnen als Grundfunktion verstanden. Karitative Einrichtungen wie das Simeonsstift sind danach Einrichtungen, die dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen unterliegen.

Inhaltlich können die Kirchen im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts auch festlegen, in welcher Form die Beschäftigung in ihren Einrichtungen stattfinden soll. Sie können sich dabei insbesondere auch der Privatautonomie bedienen. Als Folge dieser Rechtswahl gilt dann grundsätzlich das staatliche Arbeitsrecht, so etwa das Kündigungsschutzgesetz, das dem Arbeitgeber Beschränkungen hinsichtlich der Beendigung der von ihm begründeten Arbeitsverhältnisse auferlegt. Die Geltung des Arbeitsrechts hebt die Selbstbestimmung der Kirchen aber nicht auf. Das "spezifisch Kirchliche, das kirchliche Proprium" , darf nicht in Frage gestellt werden. So können dem Arbeitnehmer etwa besondere Obliegenheiten einer kirchentreuen Lebensführung auferlegt werden. Die Kirchen können bei der Gestaltung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse das Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft aller ihrer Mitarbeiter zugrunde legen; dazu gehört die Beachtung "jedenfalls der tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre". Die Rechtfertigung dafür sieht das Bundesverfassungsgericht darin, dass die Glaubwürdigkeit der Kirchen davon abhängen kann, dass ihre Mitglieder die kirchliche Ordnung auch in ihrer Lebensführung respektieren. Die Maßstäbe dafür setzt die verfasste Kirche selbst.

3. Kollisionsregeln

Die durch Art. 137 Abs. 3 WRV dem Selbstverwaltungsrecht gesetzte Schranke des für alle geltenden Gesetzes lässt Vorgaben, die den anerkannten Maßstäben der verfassten Kirchen entsprechen, weiten Raum. Sie sind grundsätzlich als gegeben hinzunehmen; allerdings dürfen sie – darin besteht die erste Kontrollschranke - nicht im Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung stehen. Als Beispiele für solche Grundprinzipien nennt das Bundesverfassungsgericht das allgemeine Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), den Begriff der guten Sitten (§ 138 Abs. 1 BGB) und den ordre public (Art. 30 EGBGB).

Gerät das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, soweit es danach aus staatlicher Sicht beachtlich ist, in Konflikt mit einschlägigen Rechtsnormen des staatlichen Rechts, so müssen die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der Norm eine Güterabwägung vornehmen. Im Rahmen dieser von Verfassungs wegen gebotenen – aber in erster Linie den Arbeitsgerichten obliegenden - Güterabwägung sind Schwere und Tragweite sowohl der kirchlichen Vorgaben als auch der dem staatlichen Recht zugrundeliegenden Prinzipien und Belange zu gewichten und in Beziehung zu setzen. Je nach Gewicht und Tragweite der betroffenen Schutzgüter kann die Entscheidung zugunsten des einen oder des anderen ausfallen oder eine Entscheidung nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz getroffen werden. Soweit das Eigenverständnis der Kirche im Bereich der durch Art. 4 Abs. 1 GG als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt und sich in der durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützten Religionsausübung verwirklicht, ist ihm besonderes Gewicht beizumessen.

Den Fall einer Kollision des kirchlichen Selbstverwaltungsrechts mit Grundrechtspositionen hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden. Allerdings bleibt unklar, weshalb das Gericht bei der Entscheidung zur Kündigung eines Mitarbeiters wegen einer Äußerung zur Abtreibungsfrage dessen Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG nicht näher in Betracht gezogen und die Religionsfreiheit des aus der Kirche ausgetretenen Mitarbeiters nicht berücksichtigt hat. Geiger meint noch, es bestehe keinerlei Gefahr, dass die Kirchen Regelungen treffen könnten, die Menschen in ihren Grundrechten verletzten oder beeinträchtigten.

Mit den beiden Kollisionsregeln hat das Bundesverfassungsgericht, wie Geiger zutreffend anmerkt, seine frühere Position zum Verhältnis von kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und staatlichem Recht grundlegend geändert. Hatte es in den vorangegangenen Entscheidungen den Kirchen praktisch die Kompetenzkompetenz hinsichtlich ihres Selbstbestimmungsrechts eingeräumt, so unterwarf es dies Recht nun nicht nur dem materiellen Vorbehalt des ordre public, sondern zudem einer Güterabwägung im Falle kollidierenden staatlichen Rechts. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Wendung zwar undramatisch vollzogen, wie es dem auf Kontinuität hin orientierten Stil des Hauses entspricht; doch nach dem zweiten Beschluss kann kein Zweifel daran bestehen, dass es an dieser neuen Linie festhalten will.

In der den Kirchen nahestehenden Literatur wird betont, dass das Bundesverfassungsgericht nach wie vor der Kirche das Recht einräume, nach ihrem Selbstverständnis zu bestimmen, was zur Kirche i.S.v. Art. 137 Abs. 3 WRV gehöre. Diese Feststellung steht jedoch der Abwägungslehre nicht entgegen. Sie betrifft die Ausgangsposition der Kirche, nimmt aber das Abwägungsergebnis nicht vorweg. Nachdem sich das Bundesverfassungsgericht selbst – vor allem in seiner Entscheidung zum Kündigungsschutz kirchlicher Mitarbeiter – auf eine Beurteilung des Gewichts kirchlicher Belange eingelassen hat, kann nicht mehr zweifelhaft sein, dass es das Prinzip der Güterabwägung auch in dieser Hinsicht ernst nimmt und dass Geiger mit seiner Feststellung eines Wandels der Rechtsprechung Recht hat.

 

III. Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen.

1. Grundprinzipien der Rechtsordnung

Steht der Standpunkt der Kirchen zu Tarifauseinandersetzungen in ihrem Bereich mit den Grundprinzipien unserer Rechtsordnung im Einklang? Diese Frage ist vorrangig zu klären. In Betracht kommt eine Verletzung der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG ).

a) Koalitionsfreiheit

Die Koalitionsfreiheit gehört zweifelsfrei zu den Grundprinzipien unserer Rechtsordnung. Sie genießt als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht qualifizierten Schutz gegen staatliche Eingriffe. Herausgehoben ist dies Freiheitsrecht auch im Hinblick auf den Schutz gegenüber Behinderungen durch Private. Das in Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG enthaltene Verbot behindernder Maßnahmen und Abreden richtet sich gegen jedermann und damit auch gegen den Arbeitgeber.

Das Streikrecht nimmt in der grundgesetzlichen Wertordnung einen hohen Rang ein. Es dient dem Schutz vor Ausbeutung und Fremdbestimmung und trägt insofern zur Wahrung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und zur freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) bei. Indem es mithilft, das Machtgefälle zwischen den Arbeitsvertragsparteien auszugleichen und den Arbeitnehmern angemessene Lebensumstände zu sichern, entspricht es dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Vor allem diese Verankerung der Koalitionsfreiheit in fundamentalen Grundsätzen der Verfassung rechtfertigt etwa auch die Zulässigkeit von Arbeitskämpfen im öffentlichen Dienst, obwohl das strukturelle Ungleichgewicht hier – ebenso wie bei den Kirchen und ihren Einrichtungen - nicht auf dem Gegensatz von Kapital und Arbeit beruht und die Druckmittel der Koalitionen sich auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben auswirken. Selbst im Notstandsfall bleiben Arbeitskämpfe zulässig (Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG). In Art. 11 Abs. 1 EMRK sieht der EGMR ein generelles Streikrecht verankert. Zudem sichert Teil II Art. 6 Nr. 4 der Europäischen Sozialcharta das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts.

b) Vereinbarkeit eines Arbeitskampfverbots im kirchlichen Bereich mit Grundprinzipien unserer Verfassung

Erweist sich der Standpunkt der Kirchen und ihrer Einrichtungen als unvereinbar mit der Koalitionsfreiheit als einem Grundprinzip unserer Verfassung, so kommt es auf das Gewicht der Rechtfertigungsgründe nicht an. Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstverwaltungsrechts sind daher in diesem Zusammenhang unerheblich. Zu prüfen ist aber, ob die Kirchen mit dem Dritten Weg der Koalitionsfreiheit so weit Rechnung tragen, dass ein staatliches Verbot von Arbeitskämpfen in ihrem Bereich noch nicht als unvereinbar mit Grundprinzipien der Verfassung oder dem ordre public anzusehen wäre.

aa) Entwertung der Koalitionen

Soweit die Kirchen für ihren Bereich Tarifverhandlungen ablehnen und Arbeitskämpfe zur Durchsetzung von Tarifforderungen als rechtswidrig betrachten, machen sie den Gewerkschaften das Grundrecht streitig, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder in der von ihnen für richtig gehaltenen Weise zu fördern. Das Druckmittel des Arbeitskampfes ist das den Koalitionen wenn nicht allein, so doch vornehmlich zu Gebote stehende Mittel, ihre Verbandsmacht gegenüber den Arbeitgebern zur Geltung zu bringen. Beraubt man sie dieses Mittels, dann bringt man sie in die Lage, die das Bundesarbeitsgericht mit dem plastischen Begriff des "kollektiven Bettelns" kennzeichnet. Wenn dieser Standpunkt sich durchsetzte, wären die Gewerkschaften im kirchlichen Bereich ihrer wesentlichen Funktion beraubt und verlören infolgedessen für die dort tätigen Arbeitnehmer weitgehend an Anziehungskraft. Die kollektive Koalitionsfreiheit wäre praktisch zum Erliegen gebracht. An einem Vergleich der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften aus dem kirchlichen Bereich mit den Zahlen aus dem Bereich der allgemeinen Wohlfahrtspflege lässt sich dies bereits jetzt ablesen, obwohl der Standpunkt der Kirchen bislang noch von keinem Gericht anerkannt wurde und die Gewerkschaft ihre gegenteilige Auffassung stets behauptet hat.

bb) Aufhebung des Verhandlungsgleichgewichts

Darüber hinaus wird durch die Haltung der Kirchen die wichtigste Funktion der Koalitionsfreiheit, den Arbeitnehmer die Chance zu einem gleichgewichtigen Aushandeln der Arbeitsbedingungen zu geben, ausgehebelt. Ohne den Rückhalt ihrer Gewerkschaft mit den dieser zu Gebote stehenden Druckmitteln unterliegen die Arbeitnehmer beim Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen der Fremdbestimmung durch die Arbeitgeber. Infolge der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer kann eine rein privatautonome Gestaltung der Arbeitsverhältnisse gerechte Ergebnisse nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit gewährleisten.

Nun soll diese Funktion allerdings nach Auffassung der Kirchen und einer im Schrifttum verbreiteten Meinung durch die Regelung des Dritten Weges ausgeglichen oder kompensiert werden. Kernstück dieses auf kircheninterner Rechtssetzung beruhenden Modells ist eine Arbeitsrechtliche Kommission, der Vertreter der Mitarbeiter und der Arbeitgeber in gleicher Zahl angehören. Ihre Aufgabe ist "die Ordnung der Arbeitsbedingungen und deren Fortentwicklung". Die Mitarbeitervertreter werden durch Vereinigungen, in denen mindestens 500 Mitarbeiter in der Diakonie zusammengeschlossen sind, nach dem Verhältnis der in ihnen organisierten Mitarbeiter entsandt. Beschlüsse bedürfen einer Zweidrittelmehrheit. Erhält ein Antrag trotz zweimaliger Beratung diese Mehrheit nicht, so entscheidet ein Schlichtungsausschuss. Dieser Ausschuss besteht aus einem Vorsitzenden und vier Mitgliedern, von denen zwei von der Arbeitnehmerseite, die anderen von der Arbeitgeberseite benannt werden. Sie müssen zu kirchlichen Ämtern wählbar sein. Der Vorsitzende muss außerdem die Befähigung zum Richteramt haben. Er wird von der Arbeitsrechtlichen Kommission mit Dreiviertelmehrheit gewählt. Der vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahre 1976 verabschiedete Musterentwurf eines Arbeitsrechts-Regelungsge-setzes (ARRG) sieht alternativ dazu auch eine Letztent-schei-dung durch die Synode zu. Das ARRG Baden räumt der Landessynode das Recht ein, in Wahrnehmung ihrer Haushaltsverantwortung in bestimmten Fällen Beschlüsse der Arbeitsrechtlichen Kommission und auch des Schlichtungsausschusses mit qualifizierter Mehrheit aufzuheben. Eine ähnliche Regelung gilt in der evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck. Die Ordnung zur Mitwirkung an der Gestaltung des Arbeitsvertragsrechts (KODA) der katholischen Kirche räumt dem Bischof das Letztentscheidungsrecht ein.

Der Dritte Weg ist darauf angelegt, eine wesentliche Funktion der Tarifautonomie zu ersetzen: Die Herstellung einer Verhandlungslage, in der sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber unabhängig und gleichgewichtig gegenüberstehen. In der Tat lässt die Zusammensetzung der Arbeitsrechtlichen Kommission insofern nichts zu wünschen übrig, und auch die Neu-tralität des Schlichtungsausschusses ist – jedenfalls institutionell – für die Einrichtungen des Diakonischen Werks der evangelischen Kirche in Deutschland gewährleistet.

Ob dies Modell tatsächlich geeignet ist, die strukturelle Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers verfassungskonform auszugleichen, erscheint hingegen fraglich; erfahrungsgemäß ist es am Verhandlungstisch leichter, den status quo zu verteidigen, als Veränderungen gegen die Interessen des Gegenspielers durchzusetzen. Die bestehende Tariflage ist aber durchweg günstiger für die Arbeitgeber als für die Arbeitnehmer. Den Gewerkschaften fällt damit bei Lohnverhandlungen stets die Rolle des Fordernden zu, die Arbeitgeber können sich auf die des Neinsagers zurückziehen. In dieser Situation ist die Arbeitnehmerseite regelmäßig auf Druckmittel angewiesen, um überhaupt etwas zu erreichen.

Die bisher im Dritten Weg erzielten Verhandlungsergebnisse bestätigen diese allgemeine Einschätzung des Bundesarbeitsgerichts. Sie deuten darauf hin, dass die Interessen der Arbeitnehmer in der Solidarität ihres Verbandes deutlich besser aufgehoben sind als am Verhandlungstisch der Arbeitsrechtlichen Kommission. Auf der kurzen Strecke, die auf dem Dritten Weg bis jetzt zurückgelegt worden ist, sind die Entgelte der kirchlichen Mitarbeiter vor allem im Niedriglohnbereich hinter den Entgelten der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst deutlich zurückgeblieben. Das soll an dem folgenden Beispiel verdeutlicht werden:

Zum 1. September 1998 wurden die von den AVR des Diakonischen Werks erfassten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den unteren Lohnbereichen in neue Vergütungsgruppen eingestuft, die niedrigere Tarife und zudem keine Dienstalterssteigerungen mehr vorsehen. Der bisher zweifache Bewährungsaufstieg wurde auf einen reduziert. Betroffen sind etwa Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten im Haus- Reinigungs- und Küchendienst, in Wäschereien, Nähstuben oder ähnlichen Einrichtungen der Diakonie. Die neuen Tarife gelten für neu eingestellte Arbeitnehmer sofort, bei bestehenden Arbeitsverhältnissen wird die Differenz abgeschmolzen. Einzelheiten ergeben sich aus der folgenden Tabelle:

 

cc) Veränderbarkeit des Dritten Weges

Die Modelle des Dritten Weges weichen im Hinblick auf den Einfluss der Arbeitgeberseite voneinander ab. In mehreren Landeskirchen gibt es ein Vetorecht der Synode . In der Arbeitsrechtsordnung der Katholischen Kirche, der KODA, hat der Bischof das Letztentscheidungsrecht. Auch diese Varianten des Dritten Weges sind gewiss darauf angelegt, ein faires Verfahren der Lohnfindung zu entwickeln, das mit dem Selbstverständnis der Kirchen im Einklang steht. Doch den Anspruch, ihren Arbeitnehmern damit eine gleichgewichtige Verhandlungsposition bei Lohnkonflikten einzuräumen, wird man kaum gelten lassen können.

Das von den Kirchen beanspruchte Selbstverwaltungsrecht hinsichtlich der Ordnung der Arbeitsverhältnisse ihrer Beschäftigten impliziert das Recht, die vorhandenen Ordnungen jederzeit zu ändern. So kann etwa nach § 7 Abs. 4 Nr. 6 der Satzung des Diakonischen Werks Berlin-Bran-denburg – Innere Mission und Hilfswerk – e.V. der Diakonische Rat den Mitgliedern (Einrichtungen) bei Vorliegen eines wichtigen Grundes gestatten, das Arbeitsrecht der Diakonie oder einer der beteiligten Kirchen nicht zu übernehmen. Dieser Herrschaftsanspruch über die jeweils anzuwendende Arbeitsrechtsordnung relativiert den Dritten Weg, selbst soweit er Parität einräumt, so weit, dass er als Kompensation für ein verfassungskräftig verbürgtes Recht nicht taugt.

Diese Sichtweise gewinnt an Schärfe, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Dritte Wege nicht nur den öffentlich-rechtlich verfassten Kirchen, sondern nach Art. 137 Abs. 3 WRV auch allen anderen Religionsgesellschaften offen stehen. Wie sie es mit den Rechten ihrer Mitarbeiter halten, wie weit sie ihnen Mitspracherechte einräumen werden, wenn sie sich daran machen, ein eigenes Arbeitsrecht zu entwickeln, ist schwer vorauszusagen. Wenn man den etablierten Kirchen gestatten würde, die Koalitionsfreiheit durch selbstentworfene paternalistische Modelle beiseite zu schieben, müsste man dem Proprium fundamentalistischer, pietistischer, orthodoxer oder esoterischer Religionsgemeinschaften denselben Respekt zollen.

dd) Zwangsschlichtung

Der Dritte Weg mündet in jedem Fall in eine Zwangsschlichtung. Die Letzt----ent-schei-dung liegt entweder bei einer paritätisch besetzten Schlichtungskommission, bei einem Bischof oder bei einer mit einem Vetorecht ausgestatteten Synode. An dieser Zwangsschlichtung muss sich das gesamte Verhalten der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter in der Arbeitsrechtlichen Kommission orientieren. Die Aussicht auf eine autoritative Lösung der Konflikte, die im Verhandlungswege nicht ausgeräumt werden können, bestimmt von vornherein die Verhandlungsstrategien und die Kompromisslinien. Das mutmaßliche Schlichtungsergebnis wird von den Verhandlungspartnern einkalkuliert und damit auch im Falle einer Einigung vorweggenommen.

Nach nahezu einhelliger Meinung steht Art. 9 Abs. 3 GG der Einführung eines staatlichen Zwangsschlichtungsverfahren bei Tarifkonflikten entgegen. Streitig ist lediglich, ob Ausnahmen in extremen Notlagen oder bei einer Gefährdung lebenswichtiger Interessen der Bevölkerung zulässig sind. Da Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG Arbeitskämpfe jedoch selbst in einer Notstandslage gegen staatliche Eingriffe schützt, ist schwer vorstellbar, in welchen - noch extremeren - Lagen eine Zwangsschlichtung in Betracht kommen soll.

Das braucht hier nicht vertieft zu werden. Für die Zwangsschlichtung des Dritten Weges lässt Art. 9 Abs. 3 GG jedenfalls keinen Raum. Die Annahme, das Grundgesetz könne dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften – nicht etwa nur dem der großen christlichen Kirchen – höhere Bedeutung beimessen als den im Notstandfall gefährdeten Rechtsgütern wie etwa dem Bestand der Bundesrepublik oder der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, ist undenkbar. Der Dritte Weg kann daher das verfassungsrechtlich garantierte Streikrecht nicht ersetzen.

c) Ergebnis

Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Die Haltung der Kirchen und ihrer Einrichtungen gegenüber Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften verletzt fundamentale Grundsätze der Verfassung. Dasselbe gilt für ihre Auffassung, Arbeitskampfmaßnahmen der Gewerkschaften gegenüber ihren Einrichtungen seien unzulässig und müssten von den Gerichten als rechtswidrig eingestuft werden. Das ihnen durch Art. 140 GG gewährte Selbstbestimmungsrecht kann diese Auffassung nicht begründen. Der Gesetzgeber würde, wollte er eine entsprechende Regelung treffen, den Wesensgehalt des Grundrechts verletzen und damit an der Schranke des Art. 19 Abs. 2 GG scheitern.

2. Güterabwägung

Zu keinem anderen Ergebnis gelangt man, wenn man die Frage nach der Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen gegen eine kirchliche Einrichtung auf der Grundlage der vom Bundesverfassungsgericht im zweiten Schritt vorgenommenen Güterabwägung prüft.

a) Vorbemerkung

Eine Güterabwägung setzt eine Gewichtung der auf beiden Waagschalen liegenden Rechtsgüter voraus. Hier geht es auf der einen Seite um Einschränkungen der Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer bei kirchlichen Einrichtungen durch ein Arbeitskampfverbot. Auf der anderen Seite sind die Einbußen an Autonomie in Rechnung zu stellen, die die kirchlichen Einrichtungen hinzunehmen hätten, wenn sie einem Arbeitskampf ausgesetzt würden.

Vorab ist eine Frage zu klären, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch keine abschließende Antwort gefunden hat: Wie kann das Gewicht der kirchlichen Belange bestimmt werden, ohne in das unantastbare Proprium der Religionsgesellschaften einzudringen? Das Bundesverfassungsgericht betont, dass die von der verfassten Kirche anerkannten Maßstäbe – etwa für die Grundverpflichtungen im Arbeitsverhältnis - bindend sind und dass dem Eigenverständnis der Kirchen besonderes Gewicht beizumessen ist, soweit es in der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt. Glaubensinhalte und ihre Bedeutung zu bestimmen, ist allein Sache der Religionsgesellschaften.

Andererseits kann die nach der Verfassungsrechtslage geforderte Güterabwägung durch die staatlichen Gerichte auf eine eigene Gewichtung der von einer Religionsgesellschaft beanspruchten Position nicht verzichten. Die Religionsgesellschaft muss die Glaubenssätze benennen, aus denen sie ein Zurückweichen des staatlichen Rechts ableitet, und ihren Standpunkt begründen. Nur so kann den Gerichten ein rationaler Zugang zur Gewichtung der kirchlichen Position verschafft werden. Anderenfalls hinge die Geltung staatlichen Rechts von einem unüberprüfbaren Entschluss der Religionsgesellschaft ab. Damit läge die Kompetenzkompetenz in ihrer Hand. Das staatliche Recht müsste vor ihrem Herrschaftsanspruch stets zurückweichen, soweit nicht fundamentale Rechtsgrundsätze oder der ordre public verletzt wären. Eine so weitgehende Interpretation des Art. 140 GG ist jedoch inakzeptabel und wird vom Bundesverfassungsgericht nicht (mehr) vertreten. Die Grundsätze des Religions- und Staatskirchenrechts und damit auch die Autonomie der Religionsgesellschaften sind ihrer Herkunft und ihrem Inhalt nach Strukturvorgaben staatlicher Ordnung und nur als solche geschützt.

Wie das geschilderte Dilemma aufzulösen und wie bei der Gewichtung kirchlicher Belange zu verfahren ist, erläutert das Bundesverfassungsgericht nicht. Auch in der Literatur findet sich dazu wenig Hilfreiches. Allerdings nimmt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu den Loyalitätspflichten kirchlicher Mitarbeiter selbst eine Gewichtung der kirchlichen Belange vor. Es kommt unter Verwendung kirchenrechtlicher und kirchengeschichtlicher Argumente zu dem Ergebnis, dass der Kirchenaustritt zu den schwersten Vergehen gegen den Glauben und die Einheit der Kirche gehört und dass der Abtrünnige mit dem Kirchenbann belegt wird. Dieses Selbstverständnis der Kirche habe das Bundesarbeitsgericht nicht hinreichend berücksichtigt. Außerdem fordert das Bundesverfassungsgericht, dem Eigenverständnis der Religionsgesellschaften ein besonderes Gewicht zuzumessen, soweit es in dem Bereich der durch Art. 4 Abs. 1 GG als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt und sich in der durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützten Religionsausübung verwirklicht. Diese Regel lässt erkennen, dass auch der Kernbereich des kirchlichen Selbstverständnisses von einer gewichtenden Betrachtung durch die Gerichte jedenfalls nicht von vornherein ausgenommen ist.

So weit vorzudringen nötigt die hier erörterte Fragestellung jedoch nicht. Hinreichende Klarheit über das Gewicht der von kirchlicher Seite zur Rechtfertigung ihres Standpunkts behaupteten Prinzipien lässt sich gewinnen, ohne diese selbst kritisch zu würdigen oder ihren dogmatischen Rang zu bestimmen. Es genügt, die Folgerichtigkeit des Rückgriffs auf Glaubenssätze und seine Plausibilität im Kontext allgemeiner Erfahrungssätze zu prüfen, um zu erkennen, welche Bedeutung und Tragweite der ablehnenden Haltung der Kirchen gegenüber Tarifverträgen und Arbeitskämpfen im christlichen Glaubenskontext zukommt. Dies kann den Arbeitsgerichten schlechterdings nicht verwehrt sein, wenn sie eine Güterabwägung kirchlicher Positionen mit verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern vorzunehmen haben. Eine so begrenzten Prüfung lässt das kirchliche Proprium unberührt, auch wenn sie zu einem anderen Ergebnis gelangt, als die Kirchen vertreten.

b) Koalitionsfreiheit

aa) Allgemeines

Die Position der Arbeitnehmer und ihrer Koalitionen ist bereits dargelegt worden. Darauf kann hier verwiesen werden. Die Arbeitnehmer sind in ihrem Recht betroffen, Arbeitskampfmaßnahmen zur Durchsetzung ihrer Forderung nach Tarifverhandlungen zu ergreifen, die eine Verbesserung ihrer materiellen Arbeitsbedingungen und damit den Schwerpunkt tarifvertraglicher Regelungen zum Ziel hatten. Dies Recht gehört zu den zentralen Gewährleistungen des Art. 9 Abs. 3 GG. Das Grundgesetz akzentuiert ihre Bedeutung durch das Behinderungsverbot des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG, für das es in keinem anderen Grundrecht eine Entsprechung gibt. Darüber hinaus wird die kollektive Koalitionsfreiheit verletzt, wenn die Gewerkschaften daran gehindert werden, ihre eigentliche Aufgabe, die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder wirksam zu wahren und zu fördern, im Wege von Tarifauseinandersetzungen wahrzunehmen.

bb) Ausgestaltung durch den Gesetzgeber

Zur Relativierung der Arbeitnehmerposition wird im vorliegenden Zusammenhang gern auf die vom Bundesverfassungsgericht mehrfach erwähnte Ausgestaltungsmöglichkeiten des Grundrechts durch den Gesetzgeber hingewiesen. Erst der Gesetzgeber schaffe die Voraussetzungen, in denen die kollektive Koalitionsfreiheit sich entfalten könne. Soweit er von seiner Regelungskompetenz keinen Gebrauch gemacht habe, könnten Koalitionsbefugnisse nicht unmittelbar aus dem Grundrecht abgeleitet werden. Da es ein "für alle geltendes Gesetz" nicht gebe, das das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gegenüber Koalitionsbetätigungen regele, gebe es insofern auch keine entsprechende Schranke. Durch einen Richterspruch könne das Gesetz nicht ersetzt werden.

Dem ist entgegenzuhalten: Art. 9 Abs. 3 GG fordert den Gesetzgeber in zweifacher Hinsicht. Auf der einen Seite ist er verpflichtet, die Institute und Normenkomplexe zu schaffen, die zur Ausübung des Freiheitsrechts erforderlich sind. Als Beispiel dafür ist das Tarifvertragsgesetz zu nennen. Auf der anderen Seite entsteht Regelungsbedarf in Fällen widerstreitender Belange und Rechte. Dabei geht es um die Herstellung praktischer Konkordanz. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich dafür etwa die Entscheidungen zur Mitgliederwerbung der Gewerkschaften in den Betrieben oder zum Arbeitskampfrecht anführen. In den zuerst genannten Fällen stehen wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und Hausrecht der Unternehmer oder dienstliche Obliegenheiten einer koalitionsmäßigen Betätigung entgegen, in den zuletzt genannten ging es um den Ausgleich der aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleiteten Positionen beider Tarifvertragsparteien. Die praktischen Schwierigkeiten der Abgrenzung beider Positionen im Überschneidungsbereich rufen den Gesetzgeber auf den Plan, der dabei über einen verhältnismäßig weiten Gestaltungsspielraum verfügt. Solange er nicht tätig wird, müssen die Gerichte die auftretenden Konflikte nach den Grundsätzen der Güterabwägung lösen. Richterrechtlichen Rechtssätze sind daher wie für alle geltende Gesetze im Sinne der Schrankenklausel des von Art. 137 Abs. 3 WRV zu behandeln.

Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Zutrittsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsangehöriger zu kirchlichen Anstalten ergibt sich nichts anderes. In dieser Entscheidung wird zwar ein solches Zutrittsrecht mangels ausdrücklicher einfachgesetzlicher Regelung verneint. Sie beruht aber darauf, dass das Gericht ein solches Zutrittsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht meinte ableiten zu können. Eine Grundrechtskollision, die durch Richterrecht hätte aufgelöst werden können, lag somit nicht vor. Die Kernbereichslehre, auf der die seinerzeit getroffene Eingrenzung des Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 3 GG beruhte, hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen aufgegeben und die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften uneingeschränkt im Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG angesiedelt.

Das Streikrecht der Arbeitnehmer und ihrer Koalitionen ergibt sich, soweit der Abschluss eines Tarifvertrages erkämpft werden soll, unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG. Schon dies reicht aus, um Konflikte mit anderen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Positionen mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung der richterlichen Entscheidungskompetenz nach den Grundsätzen der Güterabwägung zuzuweisen. Abgesehen davon ist der mit unmittelbarer Drittwirkung ausgestattete Art. 9 Abs. 3 GG fraglos ein für alle geltendes Gesetz im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV.

c) Selbstbestimmungsrecht der Diakonie

aa) Allgemeine Grundsätze zum Arbeitsrecht

Nach dem Selbstverständnis der evangelischen Kirchen tragen Einrichtungen wie das Simeonsstift zur Erfüllung ihres Sendungsauftrages bei. Diesem Auftrag sind alle Mitarbeiter in gemeinsamer Verantwortung verpflichtet. Auch die Arbeitnehmer sind danach Mitglieder einer "Dienstgemeinschaft". Mit diesem Begriff soll die "Teilhabe am Heilswerk Christi" zum Ausdruck gebracht werden. Diese religiöse Dimension, der Auftrag Jesu Christi und seine Verwirklichung durch die betreffende Einrichtung, soll in ihr sichtbar und erfahrbar werden. Die Kirchen sehen sich nach ihrem Selbstverständnis an diesen Auftrag in einer Weise gebunden, die es ihnen verbietet, ihn – sei es auch nur kurzfristig – zu suspendieren, um sich gegen einen Streik durch Aussperrung zu wehren. Ebenso kann nach diesem Selbstverständnis "kein kirchlicher Mitarbeiter, der von seiner Aufgabe her unmittelbar dem der Kirche vom Herrn vorgegebenen Auftrag verpflichtet ist, seinen Dienst einfach liegen lassen, also das Evangelium nicht verkünden, Kranke nicht pflegen usw., um eigene oder kollektive Forderungen durchzusetzen". Arbeitskampf und gegenseitiger Druck zur Interessendurchsetzung wird als unvereinbar mit einer Kirche angesehen, die Versöhnung predigt.

Unterschiedliche Interessen von Dienstgebern und Mitarbeitern sollen unter Beachtung des Grundkonsenses aller über den kirchlichen Auftrag ausgeglichen werden. Hinsichtlich der materiellen Arbeitsbedingungen sehen sich die Kirchen auch für ihre Einrichtungen an das Gebot der Lohngerechtigkeit gebunden. Die in den Einrichtungen tätigen Mitarbeiter haben danach Anspruch auf einen gerechten Lohn entsprechend ihrem Stand, damit sie angemessen für ihren und ihrer Familien Lebensunterhalt Sorge tragen können; dazu gehört das Recht zur Vorsorge im Alter sowie zur sozialen Sicherheit und zur Hilfeleistung im Krankheitsfall.

Nach dem Selbstverständnis der Kirchen ist die dem marktwirtschaftlichen System zugrundeliegende Zweckbestimmung der Erfüllung ihres Auftrages nachgeordnet. Die Funktionsbedingungen des marktwirtschaftlichen Systems, in dem sie die Dienstverträge mit ihren Mitarbeitern regeln, betrachten sie daher als nicht allein maßgeblich. Sie sehen ihre Eigenständigkeit als verletzt an, wenn sie gezwungen würden, ihren Dienst ausschließlich nach den Funktionsvoraussetzungen eines marktwirtschaftlichen Systems zu organisieren.

In einem Grundsatzdokument der Evangelischen Kirche Deutschlands aus dem Jahre 1959 wird einerseits der Tarifvertrag als "ein Element der sozialen Rechts- und Friedensordnung in der gegenwärtigen Gesellschaft" gekennzeichnet. Andererseits muss nach diesem Dokument "die absolute Freiheit im Sinne des Kampfes für Interessen ... ebenso ausgeschlossen werden ... wie die einseitige Abhängigkeit vom kirchlichen Arbeitgeber." Streik und Aussperrung seien in dem gegenseitigen Verhältnis von Kirche und kirchlichen Arbeitnehmern nicht möglich, da sie dem Charakter der kirchlichen Dienstgemeinschaft und der im Dienst der Kirche zu leistenden Arbeit widersprächen. Arbeitsrechtliche Gesamtvereinbarungen seien damit jedoch nicht ausgeschlossen.

Zusammenfassend lässt sich die Position der Kirchen zur Zulässigkeit von Arbeitskämpfen in ihrem Bereich auf drei Grundsätze zurückführen: Das Prinzip des gerechten Lohns , den unbedingt verpflichtenden Charakter ihres Sendungsauftrages und den im Gebot der Nächstenliebe wurzelnden Leitgedanken der Versöhnung. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit diese Prinzipien die kirchliche Position in nachvollziehbarer und einsichtiger Weise begründen. Bereits aus der Stringenz und Plausibilität der jeweiligen Begründungszusammenhänge ergeben sich hinreichende Anhaltspunkte für eine Gewichtung dieser Position.

bb) Lohngerechtigkeit

Die Behauptung einer spezifisch christlichen Lohngerechtigkeit kann man entweder dahin verstehen, dass die Kirche beansprucht, über materielle Kriterien für eine gerechte Entlohnung zu verfügen oder ein besseres – christlicheres - Verfahren für die Bestimmung des Entgelts ihrer Mitarbeiter anzuwenden. In der Konsequenz dieser Deutung liegt es, wenn Richardi ausführt, dass die Kirchen zwar die marktwirtschaftliche Ordnung der Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Bezie-hun-gen berücksichtigen müssten, deswegen aber nicht der Weisung ihres Stifters untreu werden dürften, keine Schätze auf der Erde zu sammeln, was wohl heißen soll, dass sie sich nicht auf Kosten ihrer Mitarbeiter bereichern dürfen. Ergänzend dürfte davon auszugehen sein, dass nicht nur zu niedrige, sondern auch zu hohe Löhne als unchristlich angesehen werden, weil der Kirche dadurch in ungerechter Weise Mittel für ihren Heilsauftrag entzogen werden. Als ein ihrem Auftrag angemessenes Verfahren betrachtet die Kirche den sogenannten Dritten Weg, der bereits in großen Zügen dargelegt wurde.

Ob die christliche Lehre die Kirchen tatsächlich in den Stand versetzt, einen gerechten Lohn für ihre abhängig Beschäftigten festzusetzen, soll hier nicht untersucht werden. Allerdings folgt die Kirche einem solchen Prinzip nicht, wenn sie ihre Beschäftigungsverhältnisse durch Arbeitsverträge regelt und sich damit für die privatautonome Regelung der Beziehungen zu ihren Mitarbeiter entscheidet. Denn dem privaten Vertragsrecht liegt das Prinzip des beiderseitig selbstbestimmten Aushandelns des Vertragsinhalts zugrunde. Allein die daraus abgeleitete Gerechtigkeitsvermutung legitimiert den staatlichen Zwang zur Durchsetzung vertraglicher Ansprüche. Die auch von den Kirchen in Anspruch genommene staatliche Hilfe bei der Durchsetzung ihrer vertraglichen Ansprüche bezieht ihre Legitimität aus dem Gerechtigkeitsprinzip des gleichgewichtigen Aushandelns der Vertragsbedingungen selbstbestimmter Personen. Grundsätze, die im Selbstbestimmungsrecht der Kirchen wurzeln, können diese Legitimationsgrundlage für staatlichen Zwang nicht ersetzen.

Bei näherer Betrachtung liegt der Lohnpolitik der Diakonie ein materielles Prinzip des gerechten Lohns auch nicht zugrunde. Sie haben vielmehr mit dem sogenannten Dritten Weg den Gedanken der Parität aufgenommen. Das darin vorgegebene Verfahren wird von seinen Befürwortern als gleichwertiges Surrogat zu Tarifverhandlungen angesehen, die Beschlüsse der Arbeitsrechtlichen Kommission oder der Schlichtungskommission werden Tarifverträgen gleichgeachtet.

Von Parität kann nun freilich nur die Rede sein, wenn die Voraussetzungen für ein faires Aushandeln von Interessengegensätzen vorliegen. Dass der Dritte Weg in Wahrheit nicht zu einem gleichgewichtigen Aushandeln der Arbeitsbedingungen führt, sondern allenfalls in eine Zwangsschlichtung mündet, ist schon dargelegt worden. Hier kann dieses Wertungsdefizit auf sich beruhen. Von einem theologisch begründeten Lohnprinzip lassen sich die Kirchen schon dann nicht leiten, wenn sie das von ihnen praktizierte Verfahren als paritätisch in dem Sinne ansehen, der der Privatautonomie ebenso wie der Tarifautonomie die Legitimation verleiht.

cc) Versöhnungsprinzip

Die Frage, mit welcher Überzeugungskraft die Diakonie geltend machen kann, mit dem Dritten Weg jedenfalls über ein christlicheres Lohnfindungsverfahren zu verfügen, ist damit noch nicht beantwortet. Behauptet wird insofern, dass das in dem Gebot der Nächstenliebe wurzelnde Prinzip der Versöhnung einer kämpferischen Auseinandersetzung entgegenstehe. Arbeitskampf und gegenseitiger Druck könnten für eine Kirche, die Versöhnung predige, keine geeigneten Konfliktlösungsmethoden sein.

Die Maßgeblichkeit dieses Prinzips und sein Rang im kirchlichen Selbstverständnis stehen außer Frage. Zu untersuchen bleibt aber, ob sich aus dem Prinzip der Nächstenliebe Folgerungen für die Zulässigkeit von Tarifauseinandersetzungen im Bereich der Religionsgesellschaften ableiten lassen. Einzuräumen ist, dass Tarifverhandlungen gewöhnlich nicht vom Geist der Nächstenliebe geprägt sind und dass dieses Prinzip bei Arbeitskämpfen noch weiter in den Hintergrund rückt. Anders als bei dem von den Kirchen entwickelten Dritten Weg müssen die Einrichtungen bei Tarifgesprächen auch mit betriebsfremden Gewerkschaftsmitgliedern verhandeln, die nicht durch eine Loyalitätspflicht an den Grundsatz der christlichen Nächstenliebe gebunden sind.

Andererseits ist jede Tarifauseinandersetzung, mag sie noch so erbittert ausgefochten werden, auf den Friedensschluss im Tarifvertrag ausgerichtet. Die arbeitsvertraglichen Bindungen bleiben bestehen, Kampfmaßnahmen werden durch das ultima-ratio-Prinzip, durch Rücksichtnahmepflichten und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – das Fairnessgebot - gemäßigt. Insofern waltet der Geist der Versöhnung auch in einer Tarifauseinandersetzung.

Vernünftigerweise wird man annehmen können, dass auch in der Arbeitsrechtlichen Kommission ehrlich um Entgelte und Arbeitsbedingungen gestritten wird und dass das Verhandlungsgebaren sowie das gegenseitige Nachgeben von taktischen Erwägungen und einer Einschätzung der Erfolgschancen mit Blick auf die Schlichtungsinstanz abhängen. Im übrigen würde sich der Geist der Versöhnung und Nächstenliebe, wenn er tatsächlich die Verhandlungen prägte, ergebnisneutral auswirken, da beide Seiten des Verhandlungstisches ihm (mindestens) gleichermaßen verpflichtet sind. Korrekterweise müsste sich der Arbeitgeber in dieser Hinsicht eher eine stärkere Bindung auferlegen.

Wenn geltend gemacht wird, ein Arbeitskampf lasse sich schlecht mit den Prinzipien christlicher Nächstenliebe und Versöhnung vereinbaren, so ist dem entgegenzuhalten, dass Unversöhnlichkeit und Lieblosigkeit in dem Lohnkonflikt begründet sind, der zum Arbeitskampf führt. Die Arbeitnehmer sind in diesem Konflikt strukturell unterlegen und greifen zu Arbeitskampfmaßnahmen, weil sie nur auf diesem Wege eine gleich starke Verhandlungsposition erlangen können. Verwehrt ihnen der strukturell überlegene Arbeitgeber diesen Ausweg, dann nimmt er ihnen die Chance auf einen fairen Abschluss. Hierfür das Prinzip der Nächstenliebe zu bemühen, mag weltlicher Kritik entzogen sein. Bei der Gewichtung dieses Aspekts bleibt aber zu berücksichtigen, dass auch die Arbeitgeberseite Nächstenliebe und Rücksichtnahme schuldet und es grundsätzlich nicht aufklärbar ist, welche Seite bei der Entstehung des Konflikts es daran hat fehlen lassen. Viele Arbeitnehmer kämpfen zudem auch für ihre Familien, denen gegenüber sie – fraglos in Übereinstimmung mit christlicher Moral – eine stärkere Loyalitätsbindung empfinden als gegenüber ihrem Arbeitgeber.

Insgesamt wirkt die Begründung des kirchlichen Standpunktes mit dem Prinzip der Nächstenliebe und Versöhnung bei näherer Betrachtung wenig überzeugend. Ein Arbeitgeber, der in einem Konflikt um Arbeitsbedingungen Nächstenliebe von seinen Arbeitnehmern einfordert, schiebt ihnen damit einseitig die Verantwortung an der Entstehung des Konflikts zu. Indem er ihnen die ihnen zu Gebote stehenden Druckmittel nimmt, unterwirft er sie zugleich seinen Herrschaftsinteressen.

dd) Fremdeinfluss

Aus ihrer Bindung an einen Heilsauftrag folgern die Kirchen und ihre Einrichtungen das Recht auf Abschottung gegen jeglichen Fremdeinfluss bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen. Diese könnten allein mit den eigenen Mitarbeitern ausgehandelt werden, die ebenso wie der Arbeitgeber an den Heilsauftrag gebunden seien.

Der Gedanke einer mit dem Heilsauftrag unverträglichen Einmischung kirchenfremder Gruppen kann gegen Verhandlungen über die grundlegenden materiellen Arbeitsbedingungen wie insbesondere das Entgelt jedoch nicht schlüssig eingewendet werden. Inhaltlich wird in Verhandlungen um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit und ähnliche Bedingungen in die Wahrnehmung des Heilsauftrages nicht eingegriffen. Es mag durchaus Arbeitsbedingungen geben, für die dieser Einwand nicht gilt, weil sie im kirchlichen Selbstverständnis wurzeln. Im Hinblick auf sie kann das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen erhebliches Gewicht beanspruchen. Die Frage, ob die Koalitionsfreiheit in einem solchen Fall zurückweichen müsste, stellt sich hier jedoch nicht.

ff) Wehrlosigkeit im Arbeitskampf

Das Hauptargument der Einrichtungen gegen die Unvereinbarkeit von Arbeitskämpfen mit ihrem Selbstbestimmungsrecht geht dahin, dass der ihnen vorgegebene Heilsauftrag es ihnen verwehrte, Arbeitnehmer während eines Arbeitskampfes auszusperren und sie deshalb Streikmaßnamen gegenüber wehrlos seien. Sie würden damit bei Arbeitskämpfen dem Lohndiktat der Gewerkschaften unterliegen.

aaa) Innere Folgerichtigkeit

Der Zusammenhang dieser Aussage mit einem daraus abgeleiteten Aussperrungsverbot ist nicht ohne weiteres einsichtig. Wenn die Einrichtung eine Tarifforderung nicht für akzeptabel hält und sich Arbeitskampfmaßnahmen ausgesetzt sieht, so dient sie ihrem Auftrag dadurch am besten, dass sie sich mit den geeignetesten Mitteln gegen die Forderung zur Wehr setzt. Ist nach ihrer Einschätzung eine Aussperrung in diesem Sinne erforderlich und greift sie zu diesem Mittel, dann kann ihr nach den Maßstäben einer Verantwortungsethik der Vorwurf einer Vernachlässigung ihrer Aufgabe nicht gemacht werden. Allein diesem Kalkül gehorcht auch der dem Gewinnoptimierungsprinzip unterliegende Unternehmer, wenn er sich selbst durch eine Aussperrung Nachteile zufügt. Im übrigen ist Naendrup beizupflichten, wenn er meint, die Behauptung, dass Kirchen in keinem Bereich die Erfüllung ihres Auftrages unter Vorbehalt des Arbeitskampfes stellen könnten, mute, auf Angestellte und Arbeiter einer Bischöflichen Spar- und Darlehnskasse angewendet, sachlich nüchterner Abwägung viel zu.

bbb) Aussperrung als begrenztes Verteidigungsmittel

Abgesehen davon geht die Behauptung der kirchlichen Arbeitgeber, sie seien ohne das Kampfmittel der Aussperrung dem Lohndiktat der Gewerkschaft hilflos ausgeliefert, weitgehend ins Leere.

Eine Aussperrung kommt als legitimes Kampfmittel überhaupt nur in Betracht, wenn sich die angreifende Gewerkschaft auf einen Teilstreik beschränkt und die dadurch erreichte Begrenzung des Kampfrahmens das Kräfteverhältnis einseitig zugunsten der Arbeitnehmer verschieben würde. Das kann der Fall sein, wenn ein Teilstreik die beiden sozialen Gegenspieler ungleich belastet. Eine ungleiche Belastung tritt aber nicht schon dadurch ein, dass ein Teilstreik wegen der Verflochtenheit der Wirtschaft zur Stilllegung anderer Betriebe führt. Denn diese Stilllegungen wirken sich für die Arbeitnehmer in den stillgelegten Betrieben nicht weniger belastend aus, da sie ihren Lohnanspruch verlieren und in aller Regel auch kein Kurzarbeitergeld bekommen. In Betracht kommt eine Abwehraussperrung deshalb im wesentlichen nur, wenn sich Teilstreiks als wirksamer Angriff auf die Solidarität der Arbeitgeber darstellen, die untereinander im Wettbewerb stehen und somit von der Streikbetroffenheit eines Konkurrenten profitieren. Eine solche Lage kann sich bei Arbeitskämpfen ergeben, die gegen einen Arbeitgeberverband geführt werden. Bis auf weiteres besteht bei kirchlichen Einrichtungen eine solche Lage nicht. Der Verband der Diakonischen Dienste ist zwar dem BDA beigetreten; dieser ist aber kraft seiner Satzung selbst nicht tariffähig.

Eine im Selbstverständnis der Kirchen begründete Aussperrungsabstinenz kann daher allenfalls in eng begrenzten Fällen die Verteidigungsfähigkeit kirchlicher Arbeitgeber behindern. Ob es im Bereich der Diakonie überhaupt Arbeitskampfsituationen geben kann, in denen legitimerweise von dem Mittel der Aussperrung Gebrauch gemacht werden darf, ist fraglich, solange die Einrichtungen keinem kampffähigen Arbeitgeberverband angehören. Streiks, die den gesamten Betrieb erfassen, sind in Krankenhäuser, Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen ohnehin nicht denkbar. Versorgung und Pflege der betreuten Personen dürfen nicht vernachlässigt werden. Dies wird durch Notdienstvereinbarungen sichergestellt. Die eigentliche Aufgabe eines Altenpflegeheims kann insofern auch im Arbeitskampf von den Arbeitnehmern nicht preisgegeben werden. Auch die Arbeitnehmer sind hier nach gesichertem Arbeitskampfrecht durch die gemeinsame Aufgabe in ihren Kampfmitteln weitgehend beschränkt. Darüber hinaus unterliegen Arbeitnehmer von Tendenzunternehmen nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch bei koalitionsmäßiger Betätigung besonderen Loyalitätspflichten, die auch bei Arbeitskampfmaßnahmen zu beachten sind. Diese Grundsätze sind auf die Arbeitnehmer im kirchlichen Bereich übertragbar.

Eine generelle Verteidigungsunfähigkeit der Arbeitgeberseite besteht jedenfalls nicht. Es mag sein, dass die Gewerkschaften gehalten sind, zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit Teilstreiks zu unterlassen, gegen die die Arbeitgeberseite sich nur durch Aussperrung zur Wehr setzen könnten. Das braucht hier nicht weiter untersucht zu werden.

ccc) Durchstehen des Arbeitskampfes

Auch ohne Aussperrung ist der Arbeitgeber im übrigen den Tarifforderungen der Gewerkschaften nicht wehrlos ausgeliefert. Streikende Arbeitnehmer erhalten keinen Lohn, und, soweit sie nicht gewerkschaftlich organisiert sind, auch keine Streikunterstützung. Da das Arbeitsentgelt ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage ist, übt allein das Durchhalten des Arbeitskampfes durch den Arbeitgeber Druck auf sie aus und kann zum Nachgeben führen. Der Arbeitgeber kann nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch Arbeitswillige (Streikbrecher) auf den bestreikten Arbeitsplätzen einsetzen. Dieses Mittel dürfte den kirchlichen Einrichtungen in besonderem Maße zu Gebote stehen, weil sie auf die Solidarität untereinander und die ihren Arbeitnehmern generell auferlegten Loyalitätspflichten bauen können. Auch dürfte für sie die Möglichkeit bestehen, auf die Mitglieder kirchlicher Orden, Diakonieschwestern usw. zurückzugreifen.

d) Abwägung

Ohne das Recht, einen Tarifabschluss durch kollektive Maßnahmen zu erkämpfen, wird die Koalitionsfreiheit ihres wesentlichen Inhalts beraubt. Ein generelles Arbeitskampfverbot bei kirchlichen Einrichtungen würde das Grundrecht der Arbeitnehmer und ihrer Koalitionen bis zur Unkenntlichkeit verkürzen. Die Einbuße ist auch in quantitativer Hinsicht dramatisch. Die Kirchen und ihre Einrichtungen sind in ihrer Gesamtheit der zweitgrößte Arbeitgeber der Bundesrepublik Deutschland. Sie sollen nach Schätzungen zusammen mehr als 1 Million Arbeitnehmer beschäftigen.

Das kirchliche Selbstverwaltungsrecht ist hingegen bei näherer Betrachtung nicht tiefgreifend verletzt, wenn Arbeitskämpfe in ihren Einrichtungen geführt werden. Das gilt jedenfalls, soweit die Kirchen ihren Standpunkt aus der christlichen Glaubenslehre ableiten.

Die kircheneigenen Grundsätze eines gerechten Lohns haben die Einrichtungen selbst auf ein modifiziertes Paritätsprinzip und Verfahrensregelungen reduziert, die dies gewährleisten sollen. Indem sie Beschäftigungsverhältnisse auf der Grundlage des staatlichen Arbeitsrechts begründen, akzeptieren sie den das Vertragsrecht beherrschenden Grundsatz der Privatautonomie, der gleichgewichtiges, selbstbestimmtes Aushandeln von Verträgen vorsieht.

Die verpflichtende Hingabe an einen Heilsauftrag wird durch Auseinandersetzungen um Löhne und materielle Arbeitsbedingungen allenfalls marginal berührt. Das gilt zumal dann, wenn man den Kirchen dahin folgt, dass sie selbst ein paritätisches Aushandeln der Arbeitsbedingungen für angemessen halten. Die Herleitung eines Aussperrungsverbots aus dem Heilsauftrag ist fragwürdig, eine Unterlegenheit der Einrichtungen bei Arbeitskämpfen kann sich durch dieses Verbot allenfalls in Ausnahmesituationen ergeben.

Das Prinzip der Versöhnung liegt schließlich auch den Tarifauseinandersetzungen mit den Arbeitnehmervertretungen zugrunde, Nächstenliebe schulden die Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern in mindestens derselben Weise wie diese ihnen. Arbeitnehmer können bei Arbeitskämpfen um bessere Löhne eine auch aus christlicher Sicht eher höherrangige Loyalitätsbindung gegenüber ihren Familien geltend machen.

Insgesamt sind die Kirchen und ihre Einrichtungen durch Arbeitskämpfe in ihrem Bereich allenfalls in geringfügigem Umfang in ihrem Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigt. Dagegen erlitten die Arbeitnehmer, müssten sie auf die ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG zugebilligten Druckmittel in Tarifauseinandersetzungen verzichten, äußerst tiefgreifende Einbußen an elementaren und verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten. Wägt man beide Positionen gegeneinander ab, so drängt sich auf: Auch im kirchlichen Bereich sind Arbeitskämpfe grundsätzlich zulässig. Ob die Gewerkschaften sich bei der Wahl und dem Einsatz von Arbeitskampfmitteln Beschränkungen gefallen lassen müssen, um dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen so weit wie möglich Rechnung zu tragen, ist damit noch nicht entschieden. Im folgenden werden dazu einige Hinweise gegeben.

e) Möglichkeiten eines schonenden Ausgleichs

aa) Der Dritte Weg

Der sogenannte Dritte Weg bietet im Hinblick auf einen schonenden Ausgleich der entgegenstehenden Grundrechtspositionen keine Lösung. Er ist zwar als Versuch, einen fairen Ausgleich bei Konflikten um materielle Arbeitsbedingungen herbeizuführen, ernst zu nehmen. Doch im Hinblick auf die Koalitionsfreiheit fällt bei ihm nichts ab. Sein besonderer Charme besteht gerade darin, die Arbeitnehmerkoalitionen aus Lohnauseinandersetzungen gänzlich herauszuhalten. Insofern kann er Kompromisscharakter nicht beanspruchen. Im übrigen fällt er auch in seinem Anspruch auf Parität hinter die grundgesetzliche Gewährleistung zurück. Ohne das Druckmittel des Arbeitskampfes bleibt die strukturelle Überlegenheit des Arbeitgebers erhalten. Die Arbeitnehmer können in der Arbeitsrechtlichen Kommission einen Beschluss zu ihren Gunsten nicht ohne Zustimmung von Arbeitgebervertretern erreichen, darüber hinaus bleibt ihnen nur der Weg in eine Zwangsschlichtung. Die Ergebnisse der im Dritten Wege ausgehandelten Arbeitsbedingungen bestätigen ihre Machtlosigkeit.

bb) Beschränkter Einsatz von Arbeitskampfmitteln

Soweit es um die Wahrnehmung der karitativen Aufgaben selbst geht, ist die Gewerkschaft bei einem Arbeitskampf ohnehin zu besonderer Rücksichtnahme verpflichtet. Die Versorgung von Patienten und pflegebedürftigen Personen ist in jedem Fall gewährleistet. Dafür gibt es bereits eingefahrene Regeln und bewährte Rechtsgrundsätze, die von den Gewerkschaften zu beachten sind und regelmäßig auch beachtet werden. Ebenso können sich aus dem geistlichen Charakter der kirchlichen Einrichtungen spezifische Einschränkungen ergeben. Besondere Schonung kann bei öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie Demonstrationen, Plakaten usw. geboten sein. Schließlich mag es auch Tarifforderungen geben, die geistlich begründete Gepflogenheiten – etwa im Hinblick auf die Einhaltung von Feiertagen, Gebetsstunden und dergl. – betreffen. Auch in diesem Punkt wird das kirchliche Selbstverwaltungsrecht der Koalitionsfreiheit engere Grenzen als im weltlichen Bereich setzen.

Die damit aufgeworfenen Fragen können hier nicht abschließend beantwortet werden. Welche Reibungspunkte bei künftigen Arbeitskämpfen auftreten können, ob und gegebenenfalls welche Arbeitskampfmaßnahmen dem kirchlichen Sendungsauftrag zuwiderlaufen und welches Maß an Rücksichtnahme dann den Gewerkschaften im einzelnen zuzumuten ist, lässt sich ohne praktische Erfahrungen mit Arbeitskämpfen im kirchlichen Bereich nicht vorhersagen. Wenn die Tarifvertragsparteien sich darüber im Vorfeld verständigen würden, wäre für einen versöhnlichen Ablauf der Tarifauseinandersetzungen viel gewonnen.

 

IV Ergebnis

Ein Arbeitskampf zur Erzwingung eines Tarifabschlusses darf im Bereich kirchlicher Einrichtungen geführt werden. Auf die schutzwürdigen Belange von Patienten, Pflegebedürftigen und Heimbewohner ist angemessene Rücksicht zu nehmen. Die Tarifforderungen müssen daraufhin überprüft werden, ob sie mit spezifisch kirchlichen Gepflogenheiten im Einklang stehen.