BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 7.8.2002, 10 AZR 626/01

Schichtzulage - Zeitspanne des Schichtdienstes

Tenor

1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 23. Mai 2001 - 10 Sa 29/00 DD - wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger für den Zeitraum von Januar 1996 bis Dezember 1998 Schichtzulagen nach § 19 a AnTV-DR in Höhe von insgesamt DM 1.272,00 brutto zustehen.

Nach dieser Tarifvorschrift kann dem Angestellten eine Schichtzulage zustehen,

"... wenn der Schichtdienst innerhalb einer Zeitspanne von mindestens 13 Stunden geleistet wird.

(AB 1 und 2)".

Die für den vorliegenden Streit der Parteien relevante tarifliche Ausführungsbestimmung Nr. 1 zu § 19 a Abs. 3 AnTV-DR lautet:

"Zeitspanne ist die Zeit zwischen dem Beginn der frühesten und dem Ende der spätesten Schicht innerhalb von 24 Stunden. Die geforderte Stundenzahl muß im Durchschnitt an den im Schichtplan vorgesehenen Arbeitstagen erreicht werden. Sieht der Schichtplan mehr als fünf Arbeitstage wöchentlich vor, können, falls dies günstiger ist, der Berechnung des Durchschnitts fünf Arbeitstage wöchentlich zugrunde gelegt werden."

Der Kläger ist bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin seit 1. September 1967 als Servicemitarbeiter beschäftigt. Seit Januar 1996 arbeitete der Kläger nach einem gleichbleibenden Schichtplan. Der über zwei Wochen reichende Schichtplan sah folgende Arbeitszeiten vor:

1. Woche:

 Montag           6.00 - 12.00 Uhr und 12.30 - 13.30 Uhr,  
 Dienstag         6.00 - 11.00 Uhr,                        
 Mittwoch         6.00 - 12.00 Uhr und 12.30 - 13.00 Uhr,  
 Donnerstag       6.00 - 12.00 Uhr und 12.30 - 13.00 Uhr,  
 Freitag          frei,                                    
 Sonnabend        8.00 - 12.00 Uhr und 12.30 - 20.00 Uhr,  
 Sonntag          8.00 - 12.00 Uhr und 12.30 - 20.30 Uhr.  

2. Woche:

 Montag           13.20 - 20.20 Uhr,                       
 Dienstag         frei,                                    
 Mittwoch         13.20 - 20.20 Uhr,                       
 Donnerstag       13.20 - 20.20 Uhr,                       
 Freitag          15.20 - 20.20 Uhr,                       
 Sonnabend        frei,                                    
 Sonntag          frei.                                    

Mit Schreiben vom 1. Februar 1996 machte der Kläger Ansprüche auf Zahlung einer Schichtzulage geltend. Die Beklagte lehnte die Erfüllung der Ansprüche mit Schreiben vom 15. Februar 1996 ab.

Mit seiner am 22. Dezember 1998 beim Arbeitsgericht eingegangener Klage hat der Kläger die Auffassung vertreten, er leiste Schichtdienst in einer Zeitspanne von durchschnittlich über 13 Stunden iSv. § 19 a Abs. 3 Nr. 2 AnTV-DR.

Er hat beantragt:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Schichtzulage gemäß § 16 i. V. m. § 19 a AnTV-DR für den Zeitraum Januar 1996 bis April 1998 in Höhe von DM 1.000,00 brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Schichtzulage gemäß § 16 i. V. m. § 19 a AnTV-DR in Höhe von DM 272,00 nebst 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.

Die Beklagte hat ihren Klageabweisungsantrag damit begründet, im Durchschnitt leiste der Kläger Schichtdienst nur über eine Zeitspanne von 11,7 Stunden. Die Voraussetzungen für eine Anwendung von Satz 3 der Ausführungsbestimmung Nr. 1 zu § 19 a Abs. 3 AnTV-DR lägen nicht vor.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen.

Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Der Kläger erfüllte nicht die Voraussetzungen für eine Schichtzulage nach § 19 a AnTV-DR.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der für den Kläger maßgebliche Schichtplan enthalte keine Zeitspanne von mindestens 13 Stunden iSv. § 19 a Abs. 3 Nr. 2 AnTV-DR. Auf Satz 3 der Ausführungsbestimmung Nr. 1 könne sich der Kläger nicht berufen, weil der Schichtplan nicht "mehr als 5 Arbeitstage wöchentlich" vorsehe. "Wöchentlich" bedeute "in jeder Woche"; eine Durchschnittsberechnung genüge insoweit nicht. Sehe der Schichtplan wie hier für eine Woche fünf oder weniger Arbeitstage vor, könne sich die Günstigkeitsregelung von vornherein nicht auswirken. Im übrigen seien auch die Voraussetzungen von Satz 1 und 2 der Ausführungsbestimmung nicht erfüllt. Nach Satz 1 dürften gleiche Wochentage aus der ersten und zweiten Schichtplanwoche nicht zusammengefaßt und der Berechnung zugrunde gelegt werden, denn damit werde der Beurteilungszeitraum von 24 Stunden überschritten.

II. Dem folgt der Senat nur im Ergebnis.

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (20. April 1994 - 10 AZR 276/93 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11 mwN).

2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann die Zweitbegründung des Landesarbeitsgerichts, wonach für die Ermittlung der Zeitspanne gleiche Wochentage aus verschiedenen Schichtplanwochen nicht zusammenfassend betrachtet werden dürfen, nicht richtig sein. Eine Schichtplangestaltung, die im Durchschnitt zu einem Schichtdienst innerhalb einer Zeitspanne von mindestens 13 Stunden bezogen allein auf die nächsten 24 Stunden ab Schichtbeginn führt, ist mit den §§ 3 ff. ArbZG nicht in Einklang zu bringen. Erst recht gilt dies für eine Zeitspanne von mindestens 18 Stunden, wie sie § 19 a Abs. 3 Nr. 1 AnTV-DR für eine höhere Schichtzulage voraussetzt. Für § 19 a Abs. 3 AnTV-DR bliebe damit kein Anwendungsbereich. Daß die Tarifvertragsparteien eine sinnlose Regelung schaffen wollten, kann jedoch nicht angenommen werden. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit übersehen, daß beide Parteien davon ausgehen, daß gleiche Wochenarbeitstage der verschiedenen Schichtplanwochen zusammen zu betrachten sind, und dies, wie sich aus ihrem Sachvortrag und der Weisung des Vorstandes der Deutschen Reichsbahn vom 16. November 1992 - VstPO 0001 (548) - ergibt, ständige Tarifübung ist. Zu betrachten sind gemäß Satz 2 der Ausführungsbestimmung Nr. 1 zu § 19 a Abs. 3 AnTV-DR die im Schichtplan vorgesehenen Arbeitstage. Ist nach dem Schichtplan zB der Montag, gleichgültig ob nur in einer oder in allen Schichtplanwochen, als Arbeitstag vorgesehen, dann ist gem. Satz 1 der Ausführungsbestimmung für die Ermittlung der Zeitspanne entscheidend, wann nach dem Schichtplan montags die Schicht frühestens beginnt und wann sie spätestens endet. Der Zusatz "innerhalb von 24 Stunden" in Satz 1 der Ausführungsbestimmung hat deshalb nur die Bedeutung, daß für einen im Schichtplan vorgesehenen Arbeitstag die Berechnung der Zeitspanne bei 24.00 Uhr keine Grenze findet, sondern daß in Fällen, in denen die letzte Schicht, die an dem Wochentag beginnt, erst nach 24.00 Uhr endet, die am Folgetag zu leistenden Arbeitsstunden bis zur Grenze von 24 Stunden ab dem Beginn der frühesten Schicht in die Berechnung der Zeitspanne einzubeziehen sind.

3. Zweifelhaft ist auch die Annahme des Landesarbeitsgerichts, das Wort "wöchentlich" in Satz 3 der Ausführungsbestimmung Nr. 1 zu § 19 a Abs. 3 AnTV-DR bedeute, daß der Schichtplan für jede Woche mehr als 5 Arbeitstage vorsehen müsse, wenn zugunsten des Arbeitnehmers für die Durchschnittsberechnung der Zeitspanne nur auf 5 Arbeitstage (mit den längsten Zeitspannen) abgestellt werden solle. Zwar hat das Landesarbeitsgericht die Bedeutung des Wortes mit "jede Woche" zutreffend ermittelt. Unter Berücksichtigung des vorliegenden tariflichen Kontexts wird die Grenze des möglichen Wortsinns jedoch nicht überschritten, wenn man ein stillschweigendes "durchschnittlich" hinzudenkt. "Wöchentlich" kann also durchaus auch die Bedeutung "im Wochendurchschnitt" haben. Letztlich bedarf diese Frage jedoch keiner Entscheidung. Auch wenn man auf den Wochendurchschnitt abstellt, sieht der hier zu beurteilende Schichtplan in der ersten Woche 6, in der zweiten Woche dagegen nur 4 Arbeitstage vor. Im Durchschnitt sind dies 5, aber nicht "mehr als 5 Arbeitstage wöchentlich". Damit ist dem Landesarbeitsgericht und der Beklagten im Ergebnis darin beizupflichten, daß Satz 3 der Ausführungsbestimmung Nr. 1 nicht zur Anwendung kommen kann.

Die nach dem Schichtplan vorgesehenen Zeitspannen betragen 14 Stunden 20 Minuten, 5 Stunden, 14 Stunden 20 Minuten, 14 Stunden 20 Minuten, 5 Stunden, 12 Stunden und 12 Stunden 30 Minuten, im Durchschnitt also 11,07 Stunden. Die Voraussetzungen des § 19 a Abs. 3 Nr. 2 AnTV-DR sind deshalb nicht erfüllt, und dem Kläger stehen die geforderten Schichtzulagen nicht zu. Die gegenteilige Ansicht des Klägers und des Arbeitsgerichts ist vom Wortlaut des Satzes 3 der Ausführungsbestimmung 1 nicht mehr gedeckt. Auch im systematischen Zusammenhang der Tarifbestimmungen oder in sonstigen Auslegungsgesichtspunkten finden sich keine Anhaltspunkte dafür, daß es über die vom Wortlaut gezogenen Grenzen hinaus genügen könnte, wenn der Schichtplan keinen oder nur einen der Wochentage in beiden Schichtplanwochen frei hält. Hätten die Tarifvertragsparteien dies gewollt, hätten sie im ersten Halbsatz des Satzes 3 der Ausführungsbestimmung Nr. 1 nicht das Wort "wöchentlich" verwendet, sondern zB formuliert: "Sieht der Schichtplan Arbeitstage an mehr als 5 Wochentagen vor, ...".

III. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Dr. Freitag Fischermeier Marquardt

Burger Großmann