Keine normative Wirkung der AVR
ArbG Bremen 5 Ca 5092/01 Urteil vom 06.09.2001
Leitsätze
1. Die AVR bilden keine beliebige und unschwer durch anderes austauschbare
Ansammlung von arbeitsrechtlichen Regelungen. Sie formulieren vielmehr
an zentraler Stelle das ethische und religiöse Fundament, auf
dessen Grundlage der Dienst in den kirchlichen Einrichtungen überhaupt
erst sein besonderes und aus Sicht der Kirche unverzichtbares Gepräge
bekommt. Das wiederum schliesst aus, dass sie nach dem Willen der
jeweiligen Einrichtung als Arbeitgeber oder der Arbeitsvertragsparteien
beliebig ersetzbar sein sollen und macht deutlich, dass sie unverzichtbarer
Bestandteil der arbeitsvertraglichen Beziehungen im Dienste der Caritas
als „Wesensäusserung“ der katholischen Kirche sind.
Die Vereinbarung der AVR ist somit als bindende vertragliche Vereinbarung
anzusehen, die nur einvernehmlich oder durch Änderungskündigung
abgeschafft werden kann, nicht aber durch irgendwelche Rechtsfolgen
eines Betriebsübergangs.
2. Die AVR passen überhaupt nicht in die Systematik zur Tarifgeltung
in § 613 a Abs. 1 BGB: Diese greift in erster Linie bei beiderseitiger
Tarifbindung. . Eine derartige beiderseitige vertragliche Bindung
ist aber im Bereich arbeitgeberseitiger Regelungen nicht denkbar.
Es handelt sich immer - auch wenn sie unter Beteiligung von Mitarbeitervertretungen
zustande kommen - um im rechtlichen Ergebnis einseitige Regelungen,
die nur durch vertragliche Vereinbarung gelten können.
Sachverhalt:
Mit der am 22.2.2001 eingegangenen Klage macht die Reinigungskraft
die Fortgeltung arbeitsvertraglicher Vereinbarungen geltend. Sie ist
seit 1998 als Raumpflegerin im katholischen Krankenhaus in Bremen
beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde begründet
mit dem "Krankenhaus St. Joseph-Stift Bremen", einer Einrichtung
der katholischen Kirche. Dem schriftlichen Arbeitsvertrag vom 11.6.1998
lagen die "Arbeitsvertragsrichtlinien des Deutschen Caritasverbandes"
zugrunde, bei Anderungen dieser "AVR" sollte jeweils die
in der "Caritas-Korrespondenz" veröffentlichte und
in Kraft gesetzte Fassung gelten, ohne dass es einer weiteren Vereinbarung
bedurfte. Die Raumpflegerin wurde eingruppiert in Vergütungsgruppe
AVR 11 Stufe 8. Im Januar 2001 war sie eingruppiert in Vergütungsgruppe
11 Stufe 9, ihre durchschnittliche Bruttomonatsvergütung lag
bei DM 1.982,76.
Die Dienstleistungsgesellschaft ist im Wege des Betriebsübergangs
zum 1.2.2001 gem. § 613 a BGB in das Arbeitsverhältnis eingetreten.
Sie ist in rein zivilrechtlicher Form organisiert, Gesellschafter
sind zu 51 % die Krankenhaus St. Joseph-Stift GmbH und zu 49% die
Firma c.s. GmbH.
Auf einer Informationsveranstaltung am 26.1.2001 wurde die Raumpflegerin
u.a. über informiert, dass ab 1.2.2001 nicht mehr die AVR des
Caritasverbandes, sondern die allgemeinverbindlichen Tarifverträge
für das Gebäudereiniger-Handwerk auf das Arbeitsverhältnis
Anwendung finden würden. Für die Raumpflegerin würde
dies einen um ca. 6,25 DM niedrigeren Stundenlohn als bisher bedeuten.
Mit Schreiben vom 2.2.2001 machte die Klägerin die Fortgeltung
der AVR geltend, mit Schreiben vom 13.2.2001 lehnte die Dienstleistungsgesellschaft
das ab. Die Raumpflegerin meint, dass auf das Arbeitsverhältnis
nach wie vor die AVR des Caritas- Verbandes Anwendung finden und trägt
hierzu Rechtsargumente vor. Sie beantragt, festzustellen, dass auf
das Arbeitsverhältnis der Parteien auch nach dem 31.1.2001 die
Richtlinien für Arbeitsverträge des Deutschen Caritas-Verbandes
in der jeweils geltenden Fassung Anwendung finden. Die Dienstleistungsgesellschaft
meint unter Darlegung von Rechtsargementen, die AVR stellten ein "Tarifsurrogat"
dar, sie seien gem. § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB durch die allgemeinver-
bindlichen Tarifverträge für das Gebäudereinigerhandwerk
abgelöst worden. Die Lohneinbußen seien Folge dieser Rechtslage.
Aus den Gründen:
(...)
1.
Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das gem. § 256
ZPO erforderliche Feststellungsinteresse der Raumpflegerin zu bejahen.
2.
Die Klage ist auch begründet. Auf das Arbeitsverhältnis
finden die AVR des Caritasverbandes auch nach dem 31.1. 2001 Anwendung,
sie werden nicht durch die Tarifverträge des Gebäudereinigerhandwerks
verdrängt.
2.1.
Nach § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB tritt der neue Betriebsinhaber
in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Betriebsübergangs
bestehenden Arbeitsver hältnissen ein, wenn ein Betrieb oder
ein Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber
übergeht. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass ein Betriebs-
oder Betriebsteilübergang vorliegt. § 613 a Abs.1
Satz 2 BGB sieht eine Veränderungssperre von einem Jahr vor,
wenn die Rechte und Pflichten durch Rechtsnormen eines Tarifvertrages
oder einer Betriebsvereinbarung geregelt werden, Diese Veränderungssperre
entfällt nach § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB, wenn die Rechte
und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen
Tarifvertrages oder einer anderen Betriebsvereinbarung geregelt
werden, § 613 a Abs. 1 Satz 4 schliesslich ermöglicht
die vertragliche Vereinbarung der "neuen" Tarifregelungen,
wenn die "alten" Regelungen nicht mehr geIten oder keine
beiderseitige Tarifgebundenheit besteht.
2.2.
Eine "automatische" Ablösung von Tarifnormen durch
die Normen eines anderen TarIfvertrages ist dem Gesetz fremd. §
613 a Abs.1 Satz 3 BGB erlaubt nur, eine entsprechende Veränderung
vor Ablauf der Jahresfrist aus Satz 2 des Gesetzes vorzunehmen,
wenn die genannten Voraussetzungen vorliegen. Auf welche Weise dies
zu geschehen hat, ist eine andere Frage.
Eine quasi "automatische" Ersetzung des "alten"
Tarifvertrages durch den "neuen" kommt nur in Betracht,
wenn
a) der jeweilige Arbeitsvertrag eine sogenannte "grosse dynamische
Verweisungsklausel" enhält, nach der anstelle der im Arbeitsvertrag
benannten Tarifverträge andere, nicht benannte Tarifverträge
gelten sollen, in deren Geltungsbereich der Arbeitgeber später
(z.B. durch einen Verbandswechsel) fällt (vgl. dazu BAG DB
2001, 1891); in diesem Fall folgt die Ersetzung des einen durch
den anderen Tarifvertrag aber nicht auf Grundlage von § 613
a BGB, sondern basiert auf dem Arbeitsvertrag selbst, oder
b) Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden sind, die Tarifverträge
nur infolge der Tarifbindung gelten und die "neuen" Tarifverträge
von derselben Gewerkschaft abgeschlossen sind wie die "alten"
(es sei denn, der Arbeitnehmer ist Mitglied beider Gewerkschaften);
unter diesen Voraussetzungen ist § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB
unmittelbar einschlägig. Gleiches gilt, wenn Tarifbindung Kraft
AIIgemeinverbindlichkeit vorliegt (vgl. Preis in Erfurter Kommentar
zum Arbeitsrecht, 2. Aufl., Rdnr. 105 zu § 613 a BGB).
Ansonsten erfordert eine vom Arbeitgeber beabsichtigte Anpassung
der Arbeitsverträge an die "neuen" Normen regelmässig
eine sozial gerechtfertigte Änderungskündigung. Diese
kann bei Vorliegen der Voraussetzungen aus § 613 a I Abs. 1
Satz 3 BGB vor Ablauf der Jahresfrist und im übrigen nach Ablauf
der Jahresfrist erklärt werden.
Vorliegend ist eine Änderungskündigung nicht ausgesprochen
worden. Ob sie sozial gerechtfertigt wäre, kann daher dahinstehen.
2.3.
Zunächst kann dahinstehen, ob die AVR als „Tarifsurrogat“
anzusehen sind. Denn die Vereinbarung der AVR im Arbeitsvertrag
der Raumpflegerin ist nicht als „Grosse dynamische Verweisung“
oder als „Tarifwechselklausel“ auszulegen. Sie ist vielmehr
konstitutiv gemeint, was aus den AVR selbst und ihrer Bedeutung
für das Selbstverständnis des Dienstes für die katholische
Kirche hervorgeht. So heisst es in § 1 der AVR unter "Wesen
der Caritas“: "Die Caritas ist eine Lebens- und Wesensäusserung
der katholischen Kirche. Die dem Deutschen Caritasverband angeschlossenen
Einrichtungen dienen dem gemeinsamen Werk christlicher Nächstenliebe.
Dienstgeber und Mitarbeiter bilden eine Dienstgemeinschaft und tragen
gemeinsam zur Erfiüllung der Aufgaben der Einrichtung bei.
..." Die AVR bilden danach keine beliebige und unschwer durch
anderes austauschbare Ansammlung von arbeitsrechtlichen Regelungen.
Sie formulieren vielmehr an zentraler Stelle das ethische und religiöse
Fundament, auf dessen Grundlage der Dienst in den kirchlichen Einrichtungen
überhaupt erst sein besonderes und aus Sicht der Kirche unverzichtbares
Gepräge bekommt. Das wiederum schliesst aus, dass sie nach
dem Willen der jeweiligen Einrichtung als Arbeitgeber oder der Arbeitsvertragsparteien
beliebig ersetzbar sein sollen und macht deutlich, dass sie unverzichtbarer
Bestandteil der arbeitsvertraglichen Beziehungen im Dienste der
Caritas als "Wesensäusserung“ der katholischen Kirche
sind. Die Vereinbarung der AVR ist somit als bindende vertragliche
Vereinbarung anzusehen, die nur einvernehmlich oder durch Änderungskündigung
abgeschafft werden kann, nicht aber durch irgendwelche Rechtsfolgen
eines Betriebsübergangs. Das stimmt überein mit der Rechtsprechung
des BAG, nach der die AVR ohnehin nur Kraft arbeitsvertraglicher
Vereinbarung anzuwenden sind (BAG NZA 1997, 778).
2.4.
Zum anderen folgt die Kammer nicht der Auffassung der Dienstleistungsgesellschaft,
nach der die AVR als "Tarifsurrogat" anzusehen sind. Nach
dem Wortlaut von § 613a Abs. 1 BGB ist die Möglichkeit
vorzeitiger Ablösung ausdrücklich beschränkt auf
Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen. Zwar ist richtig,
dass der Gesetzgeber hinsichtlich möglicher Abweichungen von
den gesetzlichen Normen die kirchlichen arbeitsrechtlichen Regelungswerke
Tarifverträgen zum Teil gleichgestellt hat (§ 7 Abs.4
ArbZG, § 6 Abs. 3 BeschFG). Richtig ist auch, dass die Auslegung
dieser Regelungswerke nach den Grundsätzen für die Auslegung
von Tarifverträgen erfolgen soll, soweit sie gleiche Regelungen
enthalten (BAG NZA 1997, 1778). Das besagt aber nicht, dass sie
im Anwendungsbereich von § 613 a BGB Tarifverträgen gleichzustellen
sind. Zum einen folgt aus der Tatsache, dass in einigen Gesetzen
ausdrücklich eine Gleichstellungsklausel enthalten ist, dass
es dieser gerade bedarf, um eine Gleichstellung vorzunehmen, die
Gleichstellung also gerade nicht aus einer „Wesensgleichheit"
folgt.
Soweit in der Begründung zu § 7 Abs.4 ArbZG erwähnt
wird, dass es sich um eine Klarsteilung handelt, besagt das nicht,
dass Tarifverträge und AVR generell gleich zu stellen sind.
Vielmehr wird damit nur klargestellt, dass mit § 7 Abs.4 ,
ArbZG dem in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 der Weimarer
Verfassung garantierten Selbstbestimungsrecht der Kirchen auch im
nicht liturgischen Bereich entsprochen wird, was erforderlich ist,
weil in § 18 Abs. 1 Nr.4 ArbZG nur der liturgische Bereich
der Kirchen vom Anwendungsbereich des ArbZG ausgeschlossen wird
(vgl. Wank in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 2. Aufl., Rdnr.
24 zu § 7 ArbZG).
2.4.1.
Ausserdem passen die AVR überhaupt nicht in die Systematik
zur Tarifgeltung in § 613 a Abs. 1 BGB: Diese greift - wie
ausgeführt - in erster Linie bei beiderseitiger Tarifbindung.
Eine derartige beiderseitige vertragliche Bindung ist aber im
Bereich arbeitgeberseitiger Regelungen nicht denkbar. Es handelt
sich immer- auch wenn sie unter Beteiligung von Mitarbeitervertretungen
zustande kommen - um im rechtlichen Ergebnis einseitige Regelungen,
die nur durch vertragliche Vereinbarung gelten können. Im
Gegensatz dazu gelten Tarifverträge gem. § 4 Abs. 1
TVG in ihrem normativen Teil und Betriebsvereinbarungen gem. §
77 Abs. 4 BetrVG unmittelbar und zwingend. Das Gesetz unterscheidet
also wohlweislich zwischen vertraglichen Regelungen -diese gelten
weiter - und unmittelbar und zwingend geltenden kollektivrechtlichen
Regelungen, bei denen eine Normkollision zwischen "alten"
und "neuen" Regelungen leicht möglich ist - da-
bei können die „neuen" Regelungen sogleich gelten.
Der unterschiedliche Normcharakter widerspricht daher der Gleichstellung
der AVR mit Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen.
2.4.2.
Zudem enthalten die AVR nicht beliebig austauschbare religiöse
Grundregeln. Es liegt auf der Hand, dass das, was die Beklagte
für sich reklamiert, auch für die AVR der evangelischen
Kirche gelten muss. Das hätte zur Folge, dass bei einem Betriebsübergang
auf eine Einrichtung der evangelischen Kirche die AVR des Caritasverbandes
ohne weiteres ersetzt werden würden durch die AVR des Diakonischen
Werkes. Der Auftrag der Mitarbeiter würde wechseln vom Dienst
für eine Wesensäusserung der katholischen Kirche zum
Dienst für eine „Wesens- und Lebensausserung der evangelischen
Kirche" (§ 1 der AVR des Diakonischen Werks). Es liegt
auf der Hand, dass arbeitsrechtliche Schutzregeln nicht zum Zweck
und Gegenstand haben können und dürfen, religiöse
Bekenntnisse beliebig auszutauschen, das folgt bereits aus Art.
4 Abs. 1 GG. Zu fragen wäre im übrigen, ob moslemische
und andere Religionsgemeinschaften nicht die gleiche Rechtsqualität
für ihre Regelungen beanspruchen können. Ergebnis könnte
dann sein, dass infolge eines Betriebsübergangs die Scharia
gilt. Diese Erwägungen machen deutlich, dass es seinen guten
Sinn hat, wenn der Austausch kollektiver Regelungen bei einem
Betriebsübergang vom Gesetz auf klassische durch staatliche
Gesetze geregelte kollektivrechtliche Materien des Arbeitsrechts
wie Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen beschränkt
wird und weshalb eine entsprechende Anwendung auf kirchliche AVR
nicht möglich ist.
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